In Einer Zaertlichen Winternacht
1
Brad
O’Ballivan öffnete die Fahrertür des wartenden Pick-ups, warf seine Gitarre ins
Auto und winkte dem Piloten und der Besatzung des Privatjets zu, mit dem er
hoffentlich nie wieder fliegen würde.
Als
ein kühler Herbstwind über die breite Lichtung fegte, schlug er den Kragen
seiner Jeansjacke hoch und zog den Hut noch tiefer ins Gesicht.
Er
war zu Hause.
Etwas
in ihm reagierte auf das Hochland von Arizona und vor allem auf die
Stone-Creek-Ranch. Es war, als würde in ihm eine Stimmgabel zum Schwingen
gebracht. Dieses Gefühl hatte er anderswo noch nie gehabt, seit er aufgebrochen
war, um seinen Lebensunterhalt mit Musik zu verdienen – nicht auf dem
Anwesen mit Seeblick außerhalb von Nashville, nicht am Stadtrand von
Hendersonville, nicht in der Villa in Mexiko oder an einem der vielen Orte, an
denen er gelebt hatte.
Mit
einem kleinen Lächeln sah er dem startenden Jet nach. Dass er sich mit
fünfunddreißig und auf dem Höhepunkt seiner Karriere aus der Countrymusikszene
zurückgezogen hatte, war bei vielen auf Unverständnis gestoßen. Er hatte das
Flugzeug und die großen Häuser verkauft und den Rest verschenkt – bis auf
die Gitarre und das, was er am Leib trug. Und ihm war klar, dass er es niemals
bereuen würde.
Mit dem Leben war er fertig. Und wenn ein O’Ballivan mit etwas fertig war,
blickte er nie zurück.
Der
Jet zog eine weiße Spur am Himmel, wurde zu einem silbrig glänzenden Punkt und
verschwand.
Brad
wollte gerade in den Pick-up einsteigen, als er den alten Chevrolet bemerkte,
der sich über den holprigen Weg quälte. Er nahm den Hut ab und wartete –
halb aufgeregt, halb resigniert.
Der
verbeulte Kombi hielt nur wenige Zentimeter von seinen Stiefelspitzen entfernt.
Seine Schwester Olivia stellte den Motor ab und stieg aus.
»Du
bist wieder da!« Sie klang verblüfft. Mit neunundzwanzig war sie die älteste
von Brads drei jüngeren Schwestern und hatte ihm nie verziehen, dass er
fortgegangen war. Sie arbeitete als Tierärztin im nahegelegenen Stone Creek in
einer florierenden Praxis und verbrachte ihre Tage meistens in einem Stall oder
auf einer Weide. Sie war praktisch veranlagt und trug ihr dunkles Haar kurz.
Ihre Augen waren hellblau.
»Ich
freue mich auch, dich zu sehen, Doc«, erwiderte Brad trocken.
Mit
einem leisen Aufschrei legte sie die Hände in seinen Nacken und drückte Brad fest
an sich. Als sie sich zurücklehnte, sah er Tränen an ihren staubigen Wangen.
»Falls
das hier nur ein PR-Gag ist, vergebe ich dir niemals!« Sie hob den Hut auf, den
sie ihm bei der heftigen Umarmung vom Kopf gestoßen hatte, und gab ihn ihrem
Bruder.
Sie
hat ihren Stolz, dachte er. Nur ihre Ausbildung hat sie sich von mir
bezahlen lassen, jeden anderen Scheck hat sie zurückgeschickt – mit den
Worten NEIN DANKE in dicker schwarzer Schrift.
Lächelnd
warf Brad den Hut in den Wagen. »Es ist kein Gag. Ich bleibe jetzt hier und bin
bereit, Wurzeln zu schlagen und etwas zu bewirken , wie Big John immer
gesagt hat.«
Olivia
quittierte seine Antwort mit betretenem Schweigen. Brad war auf einer
Konzerttournee gewesen, als ihr Großvater vor sechs Monaten an einem schweren
Herzinfarkt gestorben war. Er war gerade noch rechtzeitig zur Beerdigung nach
Stone Creek zurückgekehrt und – schlimmer noch – gleich danach wieder
abgereist, um in Chicago vor ausverkauftem Haus aufzutreten. Selbst das viele
Geld, das er im Laufe der Jahre in die Ranch gepumpt hatte, linderte sein
schlechtes Gewissen nicht.
Wie
viel Geld ist genug? Wie berühmt musst du noch werden? Das hatte Big John
ihn immer wieder gefragt. Komm nach Hause, verdammt. Ich brauche dich, Brad.
Deine kleinen Schwestern brauchen dich. Und die Stone-Creek-Ranch braucht dich
auch.
Brad
strich sich durch das hellbraune Haar und schaute über das flache Land. »Läuft
der alte Hengst noch frei herum oder haben die Wölfe und der Stacheldraht ihn
schließlich doch zur Strecke gebracht?«
»Hin
und wieder sehen wir Ransom«, erwiderte Olivia, »aber immer nur in sicherer
Entfernung am Horizont.«
Brad
legte seiner Schwester eine Hand auf die Schulter. Der legendäre wilde Hengst
faszinierte sie seit ihrer Kindheit. Manche behaupteten, dass das Pferd gar
nicht aus Fleisch und Blut bestand, sondern nur ein Fabelwesen war.
Andere – zu denen auch Brad gehörte – sahen darin einen Nachkommen
eines rätselhaften Vierbeiners, der erstmals im späten 19. Jahrhundert
gesichtet worden war.
»Sie
versuchen ihn einzufangen«, erzählte
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