In eisige Höhen
nicht, was los war. Sofort zog ich meine Stiefel an und eilte nach draußen, um nach Harris zu suchen. Es wehte immer noch ein stürmischer Wind – stürmisch genug, um mich mehrere Male von den Beinen zu reißen –, aber das Morgengrauen war hell und klar, und die Sicht war hervorragend. Über eine Stunde lang suchte ich die gesamte westliche Hälfte des Sattels ab, spähte hinter Felsblöcken und stocherte in
zerfetzten, lange verwaisten Zelten herum, aber von Harris fehlte jede Spur. Ich spürte, wie mir das Adrenalin in die Adern schoß. Tränen stiegen mir in die Augen, und sofort waren meine Lider festgefroren. Wie konnte Harris nur verschwunden sein? Es konnte einfach nicht sein.
Ich ging zu der Stelle, wo Harris den Eisbuckel hinuntergerutscht war, gleich oberhalb des Sattels, und suchte dann systematisch die Route ab, die er zum Camp genommen hatte, eine breite, fast vollkommen ebene Eisrinne. An der Stelle, an der ich ihn zuletzt gesehen hatte, bevor die Wolkenschicht sich wieder schloß, mußte Harris nur nach links abbiegen, dann zehn, fünfzehn Meter eine felsige Anhebung hochsteigen, und schon wäre er bei den Zelten gelandet.
Wenn er die Abbiegung jedoch nicht genommen hatte und geradeaus weitergegangen war – was einem in dem starken Schneegestöber leicht passieren konnte, selbst wenn man nicht total erschöpft war und vor lauter Sauerstoffmangel keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte –, wäre er rasch an den Westrand des Sattels gelangt. Das steile graue Eis der Lhotse-Flanke fiel dort 1200 Meter tief auf die Sohle des Western Cwm hinab. Als ich dort stand und es nicht wagte, mich auch nur einen Schritt weiter auf den Rand zuzubewegen, entdeckte ich leichte, einzelne Steigeisenspuren, die an mir vorbei auf den Abgrund zu führten. Diese Spuren, befürchtete ich, stammten von Andy Harris.
Als ich gestern abend im Lager angekommen war, hatte ich Hutchison gesagt, daß ich Harris heil und unversehrt bei den Zelten ankommen gesehen hätte. Hutchison hatte die Nachricht über Funk ans Basislager weitergegeben, und von da wurde sie über Satellitentelefon an Fiona McPherson weitergeleitet, die Frau, mit der Harris in Neuseeland zusammenlebte. Ihr war ein Stein vom Herzen gefallen, als sie erfuhr, daß Harris auf Camp Vier und in Sicherheit war. Nun jedoch mußte Halls Frau Jan Arnold in Christchurch das Undenkbare tun und ihr sagen, daß da ein entsetzlicher Irrtum geschehen ist – daß Andy sehr wohl vermißt und mutmaßlich tot war. Als ich mir das Telefongespräch vorstellte und meine Rolle in der Kette der Ereignisse, fiel ich wie ein Erstickender keuchend auf die Knie, würgte und würgte, während der eisige Wind mir in den Rücken stieß.
Nachdem ich 60 Minuten lang vergeblich nach Andy gesucht hatte, kehrte ich in mein Zelt zurück, gerade noch rechtzeitig, um ein Funkgespräch zwischen dem Basislager und Rob Hall mit anhören zu können; er war oben auf dem Gipfelgrat, wie ich erfuhr, und bat um Hilfe. Hutchison sagte mir dann, daß Beck und Yasuko tot seien und daß Scott Fischer irgendwo oben im Gipfelbereich vermißt wurde. Kurz danach gingen die Batterien unseres Funkgeräts aus, und wir waren vom Rest des Berges abgeschnitten. Einige Leute vom IMAX-Team auf Camp Zwei, die gleich in heller Aufregung darüber waren, daß die Verbindung zu uns abgerissen war, riefen über Funk das südafrikanische Team, deren Zelte auf dem Südsattel nur ein paar Meter von uns entfernt waren. David Breashears – der IMAx-Leiter, und ein Bergsteiger, den ich seit zwanzig Jahren kenne – berichtet: »Wir wußten, daß die Südafrikaner ein ausgezeichnetes Funkgerät hatten und daß es funktioniert. Deshalb haben wir einem aus ihrem Team in Camp Zwei gesagt, daß er Woodall auf dem Südsattel rufen und ihm sagen soll: ›Da ist ein Notfall. Da oben sterben Menschen. Wir müssen mit den Überlebenden von Halls Team in Verbindung bleiben, um die Bergung zu koordinieren. Bitte leiht Jon Krakauer euer Funkgerät.‹ Woodall hat abgelehnt. Es war vollkommen klar, was auf dem Spiel stand, aber er wollte sein Funkgerät nicht zur Verfügung stellen.«
Gleich im Anschluß an die Expedition, als ich mit den Recherchen zu meinem
Outside-
Artikel beschäftigt war, interviewte ich so viele Leute aus Halls und Fischers Gipfelteams wie möglich mit den meisten habe ich mehrmals gesprochen. Aber Martin Adams, dem Reporter suspekt sind, hielt sich nach der Tragödie bedeckt und wich meinen wiederholten Versuchen
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