In eisige Höhen
erblickte er den schwachen Schein von Madsens Stirnlampe und konnte die Gesuchten dadurch lokalisieren. »Sie haben auf dem Eis gelegen, regungslos«, sagt Boukreev. »Sie konnten nicht mehr sprechen.« Madsen war noch bei Bewußtsein und war mehr oder minder in der Lage, es auch allein zu schaffen; Pittman, Fox und Weathers waren jedoch völlig hilflos, und Namba schien tot zu sein.
Nachdem Beidleman und die anderen aufgebrochen waren, um Hilfe zu holen, hatte Madsen die verbliebenen Kletterer um sich geschart und alle mit barscher Stimme dazu angetrieben, in Bewegung zu bleiben, um die Kälte abzuwehren. »Yasuko habe ich in Becks Schoß gesetzt«, erzählt Madsen, »mit dem zu dem Zeitpunkt aber kaum noch was anzufangen war, und Yasuko hat sich überhaupt nicht mehr gerührt. Ein bißchen später habe ich gesehen, daß sie sich flach auf den Rücken gelegt hatte. Der Schnee ist ihr in die Kapuze geweht. Sie muß irgendwie einen Handschuh verloren haben – an ihrer rechten Hand trug sie jedenfalls keinen, und ihre Finger waren so verkrampft, daß man sie nicht mehr geradestrecken konnte. Die ganz Hand sah aus wie ein Klumpen Eis.
Ich habe sie für tot gehalten«, fährt Madsen fort. »Aber eine Weile später bewegt sie sich plötzlich, und da ist mir echt ein Schauer den Rücken runtergelaufen: Sie hat den Kopf ein bißchen hochgehoben, so als will sie sich aufrichten, und ihr rechter Arm fährt hoch, und das war's dann. Yasuko hat sich wieder zurückgelegt und nie wieder bewegt.«
Als Boukreev auf die Gruppe stieß, war ihm sofort klar, daß er immer nur jeweils einen Kletterer ins Lager bringen konnte. Er hatte eine Sauerstoff-Flasche dabei, die er und Madsen an Pittmans Maske anschlössen. Dann gab er Madsen zu verstehen, daß er so schnell wie möglich zurückkehren würde, und machte sich mit Fox auf den Weg zu den Zelten. »Als sie dann gegangen sind«, erzählt Madsen, »liegt Beck wie ein Embryo zusammengekrümmt da und rührt sich kaum, und Sandy hat zusammengerollt in meinem Schoß gehockt und sich ebensowenig gerührt. Ich habe sie dann angeschrien: ›Hey, immer mit den Händen wackeln! Ich will deine Hände sehen!‹ Und als sie sich aufrichtet und die Hände rausnimmt, sehe ich, daß sie keine Handschuhe anhat – daß sie an ihren Handgelenken baumeln.
Ich versuche also, ihr wieder die Handschuhe überzuziehen, und plötzlich höre ich Beck ganz leise faseln: ›Hey, ich hab's!‹ Dann rollt er sich irgendwie ein Stück weg, hockt sich auf einen großen Felsblock und stellt sich mit ausgestreckten Armen mitten in den Wind. Eine Sekunde später kommt eine steife Bö und weht ihn in die Nacht um, wo ich ihn mit meiner Stirnlampe nicht mehr einfangen konnte. Und das war das letzte, was ich von ihm gesehen habe.
Toli ist kurz danach zurückgekommen und hat sich Sandy geschnappt. Ich habe dann meine Sachen gepackt und bin ihnen hinterhergetrottet und habe versucht, mich immer an Tolis und Sandys Stirnlampe zu halten. Von Yasuko habe ich da bereits geglaubt, daß sie tot ist, und Beck war für mich ein hoffnungsloser Fall.« Als sie schließlich das Lager erreichten, war es 4 Uhr 30, und über dem östlichen Horizont klarte sich allmählich der Himmel auf. Als Beidleman von Madsen hörte, daß Yasuko es nicht geschafft hatte, brach er in seinem Zelt zusammen und mußte eine Dreiviertelstunde lang weinen.
KAPITEL SECHZEHN
Südsattel
6 Uhr 11. Mai 1996
7.900 Meter
Ich mißtraue Zusammenfassungen, jedem Versuch, durch die Zeit gleiten zu wollen, jeder Behauptung, man habe das, was man erzählt, im Griff. Meiner Meinung nach ist jemand, der behauptet, zu verstehen, und dabei ruhig und gefaßt wirkt, jemand, der behauptet, von Gefühlen zu schreiben, die er sich in Ruhe ins Gedächtnis zurückgerufen hat, ein Dummkopf und ein Lügner. Zu verstehen heißt, vor Aufregung zu erbeben. Und sich erinnern heißt, in das Vergangene wieder einzutreten, aufgewühlt und innerlich zerrissen zu werden... Ich bewundere die Fähigkeit, vor den Ereignissen in die Knie zu gehen.
HAROLD BRODKEY
Manipulations
Um 6 Uhr morgens des 11. Mai schaffte Stuart Hutchison es schließlich, mich zu wecken. »Andy ist nicht in seinem Zelt«, sagte er finster, »und in irgendeinem anderen Zelt scheint er auch nicht zu sein. Ich glaub nicht, daß er je hier angekommen ist.«
»Harold ist nicht da?« fragte ich. »Unmöglich. Ich hab mit eigenen Augen gesehen, wie er zu den Zelten gegangen ist.« Ich war geschockt, verstand
Weitere Kostenlose Bücher