In eisige Höhen
Gefecht gesetzten Kunden ließ er mit Tim Madsen zurück. Madsen wollte seine Freundin, Charlotte Fox, nicht zurücklassen. Er blieb also dort und erklärte sich selbstlos bereit, sich um die anderen zu kümmern, bis Hilfe eintreffen würde.
Zwanzig Minuten später humpelte Beidlemans Troß in Camp Vier ein, wo man sich mit einem sehr besorgten Anatoli Boukreev überschwenglich in die Arme fiel. Schoening und Beidleman, die kaum noch sprechen konnten, erklärten dem Russen, wo er die fünf anderen zu suchen hatte, die mitten im Toben der Elemente zurückgeblieben waren. Dann brachen sie in ihren jeweiligen Zelten zusammen, völlig am Ende.
Boukreev war mehrere Stunden vor allen anderen in Fischers Team am Südsattel angekommen. Tatsächlich war er bereits um 17 Uhr, als seine Teamgefährten sich noch immer bei 8500 Metern durch die Wolken nach unten kämpften, in seinem Zelt, wo er sich ausruhte und Tee trank. Erfahrene Bergführer würden seine Entscheidung später in Frage stellen, so weit vor den seiner Obhut anvertrauten Kunden nach unten abzusteigen – ein extrem unorthodoxes Verhalten für einen Bergführer. Einer der Kunden aus jener Gruppe hat für Boukreev nichts als Verachtung übrig und vertritt beharrlich die Meinung, daß der Bergführer, als es wirklich darauf ankam, »sich in aller Eile davongemacht« hat.
Anatoli war gegen 14 Uhr vom Gipfel aufgebrochen und schon kurz darauf an der Hillary-Stufe im Stau steckengeblieben. Sobald die Menge sich wieder zerstreut hatte, stieg er, ohne auf irgendwelche Kunden zu warten, zügig den Südostgrat hinunter – obwohl er Fischer oben auf der Felsstufe noch gesagt hatte, daß er mit Martin Adams hinuntergehen würde. Boukreev war daher längst im Lager, als der Sturm seinen Höhepunkt erreichte.
Als ich Anatoli nach der Expedition fragte, warum er so schnell vor seiner Gruppe nach unten gestiegen war, gab er mir die Durchschrift eines Interviews, das er erst ein paar Tage
zuvor im Beisein eines Dolmetschers
Men's Journal
gegeben hatte. Boukreev sagte mir, daß er die Durchschrift gelesen habe und mit dem Inhalt einverstanden sei. Als ich es an Ort und Stelle las, stieß ich auf eine Reihe von Fragen über den Abstieg, die er wie folgt beantwortet hatte:
Ich blieb etwa eine Stunde [auf dem Gipfel]... Es ist sehr kalt, was natürlich Kraft kostet... Meine Einstellung war die, daß es niemandem was nützt, wenn ich hier herumsitze und friere. Besser, ich kehre auf Camp Vier zurück, um so Sauerstoff zu den zurückkehrenden Kletterern hochbringen zu können oder um zu Hilfe zu eilen, falls jemandem während des Abstiegs die Kräfte ausgehen. Wenn man in solch großen Höhenlagen untätig herumsitzt, büßt man in der Kälte an Kraft ein, und dann ist man zu gar nichts mehr nütze.
Boukreev benutzte keinen zusätzlichen Sauerstoff, was ihn zweifellos wesentlich empfindlicher für die Kälte machte. Ohne dieses wichtige Hilfsmittel waren Erfrierungserscheinungen und Unterkühlung nur eine Frage der Zeit; er konnte es sich daher einfach nicht leisten, sich lange auf dem Gipfelgrat aufzuhalten und auf Nachzügler zu warten. Aus welchem Grund auch immer, jedenfalls eilte er weit vor seinem Team nach unten – was er ja bereits während der gesamten Expedition so gehalten hatte, wie Fischer in seinen letzten Briefen und Telefonaten vom Basislager nach Seattle deutlich gemacht hatte.
Als ich ihn danach fragte, was er sich denn nun dabei gedacht habe, als er seine Leute auf dem Gipfelgrat zurückließ, bestand Anatoli darauf, daß es im Interesse des Teams war: »Es ist viel besser, wenn ich mich auf Südsattel aufwärme und bereit bin, Sauerstoff hochzutragen, wenn Leute keinen mehr haben.« Und tatsächlich, kurz nach Einbruch der Dunkelheit, als Beidlemans Gruppe immer noch nicht zurückgekehrt war und der Sturm Orkanstärke erreicht hatte, wurde Boukreev klar, daß Not am Mann war. Weder Tod noch Teufel fürchtend, unternahm er daraufhin einen waghalsigen Vorstoß, den Leuten Sauerstoff zu bringen. Aber seine Taktik wies einen ernsthaften Mangel auf: Da weder er noch Beidleman ein Funkgerät hatten, gab es für Anatoli keine Möglichkeit, in Erfahrung zu bringen, was denn nun tatsächlich mit den fehlenden Leuten passiert war, die genauen Umstände ihrer Notlage oder wo sie sich in dem riesigen Gebiet des oberen Bergabschnitts überhaupt befanden.
Gegen 19 Uhr 30 verließ Boukreev Camp Vier und machte sich dennoch auf die Suche. Zu dem Zeitpunkt, wie er
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