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In eisige Höhen

Titel: In eisige Höhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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100 Kilo wog und einen starken neuseeländischen Akzent hatte. Martin war mindestens fünfzehn Zentimeter kleiner, wog vielleicht 65 Kilo und sprach ein breites, schleppendes Texanisch. Wie konnte ich nur einen solch ungeheuerlichen Irrtum begehen? War ich tatsächlich so geschwächt gewesen, daß ich in das Gesicht eines beinahe Fremden geschaut hatte und ihn mit einem Freund verwechselt hatte, mit dem ich die vergangenen sechs Wochen verbracht hatte? Und falls Andy, nachdem er den Gipfel erreicht hatte, niemals auf Camp Vier angekommen war, was in Gottes Namen war dann mit ihm passiert?
     

KAPITEL SIEBZEHN
    Gipfel 15 Uhr 40
10. Mai 1996
8.848 Meter

[U]nser Schiffbruch ist ohne Zweifel auf das plötzliche Aufkommen des strengen Wetters zurückzuführen, dem ich keinen befriedigenden Grund beimessen kann. Ich glaube nicht, daß irgend jemand jemals einen Monat lebend überstanden hat, wie wir ihn gerade überstanden haben, und den wir ja auch trotz des Wetters ohnehin hätten überstehen sollen, wäre da nicht die Erkrankung eines zweiten Kameraden gewesen, Kapitän Oates, und der Mangel an Benzin in unseren Depots, für den ich keine Erklärung finde; und schließlich, wäre da nicht das Unwetter gewesen, das
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Meilen vor dem Depot auf uns herabfuhr, wo wir uns unsere letzten Vorräte sichern wollten. Dieser letzte Schlag übertraf alles, was uns an Mißgeschick hätte passieren können... Wir sind Risiken eingegangen und waren uns dessen auch vollkommen bewußt. Die Dinge haben sich gegen uns gekehrt, und wir haben keinen Grund zur Klage, sondern müssen uns dem Willen der göttlichen Vorsehung beugen und mit aller Entschlossenheit bis zuletzt unser Bestes tun...
    Hätten wir überlebt, hätte ich eine Geschichte von der Tapferkeit, der Ausdauer und dem Mut meiner Kameraden zu erzählen gehabt, die das Herz eines jeden Engländers ergriffen hätte. Nun müssen diese wenigen Aufzeichnungen und unsere Leichen die Geschichte erzählen.
    ROBERT FALCON SCOTT,
    In
Message to the Public, 
    geschrieben kurz vor seinem Tod 
    in der Antarktis am 29. März 1912, 
    zitiert aus »Scotts Letzte Expedition«
     
    Als Scott Fischer am Nachmittag des 10. Mai um 15 Uhr 40 den Gipfel erklomm, fand er dort seinen ihm ergebenen Freund und Sirdar Lopsang Jangbu vor, der auf ihn wartete. Der Sherpa nahm sein Funkgerät aus der Daunenjacke, stellte eine Verbindung zu Ingrid Hunt im Basislager her und gab das Walkie-talkie dann Fischer. »Wir haben's alle geschafft«, sagte Fischer Hunt, 3500 Meter weiter unten. »Gott, bin ich müde.« Ein paar Minuten später kam Makalu Gau mit zwei Sherpas an. Auch Rob Hall war da und wartete geduldig auf Doug Hansen. Unterdessen begann eine aufsteigende, unheilverkündende Wolkendecke den Gipfelgrat einzuhüllen.
    Lopsang zufolge klagte Fischer während der fünfzehn, zwanzig Minuten, die er auf dem Gipfel verbrachte, wiederholt darüber, daß er sich nicht gut fühle – etwas, das der von Natur aus stoische Bergführer so gut wie nie tat. »Scott mir sagen: ›Ich bin zu kaputt. Ich bin auch krank und brauche Medizin für Magen‹«, weiß der Sherpa noch. »Ich habe ihm Tee gegeben, aber er hat nur ein bißchen getrunken, nur halbe Tasse. Ich sage ihm also: ›Scott, bitte, wir gehen nach unten schnelle Und dann sind wir nach unten gegangen.«
    Fischer brach als erster auf, gegen 15 Uhr 55. Lopsang berichtete, daß Scott – der während der gesamten Besteigung zusätzlichen Sauerstoff benutzt hatte und dessen dritte Flasche noch dreiviertel voll war, als er den Gipfel verließ – nun aus irgendeinem Grund seine Maske abnahm und den Sauerstoff nicht mehr benutzte.
    Kurz nachdem Fischer sich auf den Weg nach unten gemacht hatte, brachen auch Gau und seine Sherpas auf, und schließlich stieg auch Lopsang hinab. Sie ließen Hall, der weiter auf Hansen wartete, allein auf dem Gipfel zurück. Gleich nachdem Lopsang sich auf den Weg gemacht hatte, so gegen 16 Uhr, tauchte Hansen schließlich auf. Er hielt verbissen durch und quälte sich über den letzten kleinen Höcker auf dem Gipfelgrat. Hall eilte Hansen gleich entgegen.
    Halls für alle verbindliche Umkehrzeit war zwei geschlagene Stunden überschritten worden. Kollegen des Bergführers, die seine vorsichtige, äußerst methodische Art kannten, haben sich verblüfft über diesen uncharakteristischen Mangel an Urteilsvermögen geäußert. Warum, fragten sie sich, hatte er Hansen nicht weiter unten am Berg umkehren lassen, als klar war, daß der

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