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In eisige Höhen

Titel: In eisige Höhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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ich Beck im ersten Moment da so liegen sah, war ich dermaßen erschrocken über seinen fürchterlichen Zustand – und über die unverzeihliche Art, wie wir ihn ein weiteres Mal im Stich gelassen hatten –, daß ich beinahe in Tränen ausgebrochen wäre. »Jetzt wird alles gut«, log ich. Ich unterdrückte mein Schluchzen, zog ihm die Schlafsäcke über, schloß das Zelt und versuchte es wieder halbwegs aufzurichten. »Keine Angst, Junge. Wir haben jetzt alles im Griff.«
    Gleich nachdem ich Beck so gut es ging versorgt hatte, schnappte ich mir das Funkgerät und rief Dr. Mackenzie im Basislager. »Caroline!« flehte ich hysterisch. »Was soll ich mit Beck machen? Er ist noch am Leben, aber ich glaube nicht, daß er's noch lange macht. Sein Zustand ist sehr, sehr ernst!«
    »Beruhig dich erst mal, Jon«, antwortete sie. »Du mußt mit Mike und den anderen absteigen. Wo sind Pete und Todd? Bitte sie, nach Beck zu schauen, und mach dich dann auf den Weg nach unten.« Völlig aufgelöst weckte ich Athans und Burleson, die sofort mit einer Feldflasche heißen Tees zu Becks Zelt hinübereilten. Gleich darauf rannte ich aus dem Lager, um zu meinen Teamgefährten aufzuschließen. Als ich ging, war Athans bereits dabei, eine Spritze mit vier Milligramm Dexamethason vorzubereiten, um sie dem Texaner in den Oberschenkel zu injizieren. Dies waren lobenswerte Gesten, aber es war kaum anzunehmen, daß es Beck noch viel half.
     

KAPITEL ZWANZIG
    Genfer Sporn
9 Uhr 45 12. Mai 1996
7.890 Meter

Der große Vorteil, welcher die Unerfahrenheit dem künftigen Bergsteiger verschafft, ist, daß er nicht in Traditionen und alten Vorgehens-weisen steckenbleibt. Alles erscheint ihm unkompliziert, und sieht er sich einem Problem gegenüber, so wählt er die einfachste Lösung. Oft verbaut er sich dadurch natürlich den so sehr herbeigesehnten Erfolg, und manchmal nimmt es ein tragisches Ende, aber er selbst weiß von alldem nichts, wenn er in sein Abenteuer zieht. Maurice Wilson, Earl Denman, Klaus Becker-Larsen – keiner von ihnen war im Bergsteigen sonderlich beschlagen, sonst hätten sie sich wohl auch kaum auf ihre hoffnungslosen Abenteuer begeben, aber so, befreit von den Fesseln technischer Erörterungen, brachte sie ihre Entschlossenheit ziemlich weit.
    WALT UNSWORTH
    Everest
     
    15 Minuten nachdem ich am Sonntag morgen, dem 12. Mai, vom Südsattel aufgebrochen war, holte ich meine Teamgefährten ein. Sie boten einen jämmerlichen Anblick, wie sie von der Spitze des Genfer Sporns abstiegen: Wir waren alle dermaßen geschwächt, daß unser Troß eine halbe Ewigkeit brauchte, um auf den Schneehang zu gelangen, der nur ein paar hundert Meter darunter lag. Das schmerzlichste an der Sache war jedoch die Tatsache, daß wir praktisch nur noch eine Rumpfmannschaft waren: Als wir diesen Bereich vor drei Tagen bestiegen hatten, waren wir elf Bergsteiger gewesen; jetzt waren wir nur noch zu sechst.
    Stuart Hutchison, der die Nachhut bildete, war immer noch oben auf dem Sporn, als ich zu ihm aufschloß. Er machte sich gerade bereit, sich an den Fixseilen abzuseilen. Mir fiel auf, daß er seine Schneebrille nicht trug. Auch wenn es ein wolkenverhangener Tag war, würde ihn die heimtückische ultraviolette Strahlung in dieser Höhenlage sehr rasch schneeblind machen. »Stuart!« schrie ich ihm gegen den Wind zu und zeigte auf meine Augen. »Deine Schneebrille!«
    »Ach ja, stimmt«, antwortete er träge. »Tausend Dank, daß du mich dran erinnerst. Hey, wo du gerade hier bist, kannst du dir vielleicht kurz meinen Klettergurt anschauen? Ich bin so am Ende meiner Kräfte, daß ich einfach nicht mehr klar denken kann. Wäre nett, wenn du ein wenig auf mich aufpassen könntest. «Ich überprüfte seine Vergürtung und bemerkte, daß sie an der Schnalle nicht richtig zugezogen war. Hätte er sich mit seinem Sicherheitsbügel ins Seil eingehakt, wäre sie unter seinem Körpergewicht sofort aufgesprungen, und Hutchison wäre die Lhotse-Flanke hinuntergestürzt. Als ich ihn darauf hinwies, sagte er: »Ja, hatte ich mir schon gedacht. Aber meine Hände waren einfach zu kalt, und ich hab's nicht richtig hingekriegt.« Ich riß mir in dem schneidend kalten Wind die Handschuhe von den Fingern, schnallte ihm rasch den Klettergurt um die Hüften fest und schickte ihn den Sporn hinunter, den anderen hinterher.
    Als er sich ins Seil einhakte, warf er kurz seinen Eispickel beiseite und ließ ihn dann, als er sich an dem ersten Seilabschnitt hinunterließ, auf

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