In eisige Höhen
dem Felsen liegen. »Stuart!« rief ich. »Dein Eispickel!«
»Ich schaff's nicht mehr, ihn zu tragen«, rief er zurück. »Laß ihn einfach da liegen.« Ich war selbst so kaputt, daß ich ihm nicht lange widersprechen wollte. Ich ließ den Eispickel an Ort und Stelle, hakte mich ins Seil ein und folgte Stuart die steile Flanke des Genfer Sporns hinunter.
Eine Stunde später kamen wir am oberen Ende des Gelben Bandes an, wo sich ein kleiner Stau gebildet hatte. Einer nach dem anderen ließen wir uns vorsichtig an der senkrechten Kalksteinstufe hinunter. Ich befand mich am Ende der Schlange, und während ich wartete, schlössen einige von Scott Fischers Sherpas zu uns auf. Unter ihnen war auch Lopsang Jangbu, halb wahnsinnig vor Trauer und Erschöpfung. Ich legte eine Hand auf seine Schulter und sagte ihm, daß es mir leid täte wegen Scott. Lopsang schlug sich auf die Brust und rief tränenerstickt: »Ich bin großes Unglück, großes Unglück. Scott ist tot. Mein Fehler sein. Ich bin großes Unglück. Mein Fehler sein. Ich bin großes Unglück.«
Gegen 13 Uhr 30 schleppte ich meinen abgezehrten Arsch ins Camp Zwei. Obwohl ich mich rational betrachtet immer noch in großer Höhenlage befand – 6500 Meter –, fühlte ich mich an diesem Ort wesentlich besser als auf dem Südsattel. Der mörderische Wind hatte sich vollkommen gelegt. Anstatt zu zittern und Angst vor Erfrierungen zu haben, war ich nun von der sengenden Sonne wie in Schweiß gebadet. Ich hatte nun nicht mehr das Gefühl, daß mein Leben an einem seidenen Faden hing.
Unser Speisezelt war, wie mir nun auffiel, in ein improvisiertes Feldlazarett umgewandelt worden, in dem Henrik Jessen Hansen, ein dänischer Arzt im Team von Mal Duff, und Ken Kamler, ein amerikanischer Kunde und Arzt in Todd Burlesons Expedition, Dienst taten. Um 15 Uhr, als ich gerade eine Tasse Tee trank, trugen sechs Sherpas einen halb weggetretenen Makalu Gau schnell ins Zelt, und die Ärzte traten in Aktion.
Sie legten ihn sofort flach hin, zogen ihn aus und steckten ihm ein Infusionsröhrchen in den Arm. Als Kamler die Erfrierungen an den Händen und Füßen untersuchte, bemerkte er düster: »Ich habe noch nie so schlimme Erfrierungen gesehen.« Als er Gau fragte, ob er seine Gliedmaßen zur medizinischen Dokumentation fotografieren dürfe, gab der Bergsteiger mit breitem Grinsen seine Einwilligung; wie ein Soldat, der nach geschlagener Schlacht seine Wunden zur Schau stellt, schien er beinahe stolz auf die grausigen Verletzungen zu sein, die er davongetragen hatte.
Anderthalb Stunden später – die Ärzte waren noch immer mit Makalu beschäftigt – meldete David Breashears mit bellender Stimme über Funk: »Wir sind mit Beck auf dem Weg nach unten. Vor Einbruch der Dunkelheit werden wir ihn auf Camp Zwei haben.«
Mein Herz stand beinahe still, und ich brauchte einen Moment, bis mir klarwurde, daß Breashears nicht von der Bergung einer Leiche sprach. Er und seine Kameraden brachten einen lebenden Beck herunter. Ich konnte es nicht fassen. Als ich ihn vor sieben Stunden auf dem Südsattel zurückgelassen hatte, war ich noch ganz erschrocken bei dem Gedanken gewesen, daß er den Morgen nicht überleben würde.
Beck, wieder einmal totgesagt, weigerte sich einfach zu sterben. Später erfuhr ich von Pete Athans, daß sich der Zustand des Texaners kurz nach der Dexamethasonspritze erstaunlich schnell gebessert hatte. »So um halb elf rum haben wir ihn angezogen, den Klettergurt angelegt und dann festgestellt, daß er tatsächlich aufstehen und gehen konnte. Wir waren alle völlig baff.«
Sie machten sich auf den Weg und stiegen vom Südsattel ab. Athans ging direkt vor Beck und sagte ihm, wo er die Füße hinzusetzen hatte. Beck ließ also einen Arm über Athans Schulter hängen, und Burleson hielt den Texaner am Klettergurt fest. So trotteten sie gemeinsam den Berg hinunter. »Manchmal mußten wir ihm ganz schön unter die Arme greifen«, erzählt Athans, »aber wirklich, es war schon erstaunlich, wie gut er ging.«
Als sie bei 7 600 Metern oberhalb der Kalksteinstufen des Gelben Bandes ankamen, wurden sie von Ed Viesturs und Robert Schauer in Empfang genommen, die Beck schnell und sicher an den steilen Felsformationen hinunterließen. Auf Camp Drei gingen ihnen Breashers, Jim Williams, Veikka Gustafsson und Araceli Segarra zur Hand. Die acht Bergsteiger, in bester körperlicher Verfassung, manövrierten den schwer angeschlagenen Beck die Lhotse-Flanke in wesentlich
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