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In eisige Höhen

Titel: In eisige Höhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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Funkruf von Rob Hall auf dem Südgipfel mit an. Plötzlich kam Burleson herbeigeeilt. »Doktor! Sie werden dringend gebraucht!« rief er Stuart von draußen zu. »Nehmen Sie Ihr Zeug mit. Beck ist gerade hier angekommen, und er sieht sehr schlecht aus!« Hutchison, von Becks Wiederauferstehung wie vom Schlag gerührt, kroch erschöpft nach draußen, um zu helfen.
    Er, Athans und Burleson legten Beck in ein freies Zelt, wickelten ihn in zwei Schlafsäcke mit mehreren Heißwasserflaschen ein und setzten ihm eine Sauerstoffmaske auf. »Zu dem Zeitpunkt«, wie Hutchison gesteht, »hat keiner von uns geglaubt, daß Beck die Nacht übersteht. Ich konnte seinen Puls an der Halsschlagader nur ganz schwach fühlen, und das ist der letzte Puls, den man verliert, bevor man stirbt. Sein Zustand war äußerst kritisch. Und selbst wenn er morgen früh noch am Leben wäre, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie wir ihn nach unten kriegen sollten.«
    Mittlerweile waren auch die drei Sherpas, die hochgeklettert waren, um Scott Fischer und Makalu Gau zu bergen, ins Lager zurückgekehrt. Sie hatten ihn auf einer Felsleiste in 8 300 Meter Höhe zurückgelassen, nachdem sie zu dem Schluß gekommen waren, daß für Fischer jede Hilfe zu spät kam. Anatoli Boukreev jedoch, der gerade gesehen hatte, wie der totgesagte Beck ins Lager einmarschierte, wollte Fischer nicht einfach abschreiben. Um 17 Uhr, als der Sturm stärker wurde, zog der Russe allein los, um ihn zu retten.
    »Ich finde Scott um sieben Uhr, vielleicht ist es halb acht oder acht«, erzählt Boukreev. »Es ist schon dunkel. Sturm ist sehr stark. Seine Sauerstoffmaske hängt im Gesicht, aber Flasche ist leer. Er trägt keine Handschuhe. Hände total nackt. Daunenanzug ist weit geöffnet, von den Schultern gezogen, ein Arm ist draußen ohne Kleider. Ich kann nichts tun. Scott ist tot.« Schweren Herzens warf Boukreev Fischers Rucksack als ein Leichentuch über sein Gesicht und ließ ihn auf der Felsleiste zurück. Dann sammelte er Scotts Kamera, Eispickel und sein Lieblingstaschenmesser ein – das Beidleman später Scotts neunjährigem Sohn in Seattle gab – und begann im Sturm den Abstieg.
    Am Samstag abend peitschte der Sturmwind sogar mit noch größerer Heftigkeit über den Südsattel als in der vorangegangenen Nacht. Als Boukreev Camp Vier erreichte, betrug die Sichtweite nur noch ein paar Meter, und beinahe hätte er die Zelte nicht mehr gefunden.
    Mit dem zusätzlichen Sauerstoff, den ich nun zum ersten Mal seit dreißig Stunden wieder atmete (dank des IMAX-Teams), fiel ich trotz des Getöses des wild im Wind schlagenden Zeltes in einen fiebrigen, unruhigen Schlaf. Kurz nach Mitternacht fand ich mich mitten in einem Alptraum über Andy Harris wieder – er stürzte mit einem Seil in den Händen die Lhotse-Flanke hinunter und wollte wissen, warum ich das andere Ende nicht festgehalten hatte. Plötzlich wurde ich von Hutchison wach gerüttelt. »Jon«, rief er aus voller Kehle, um den heulenden Wind zu übertönen, »das Zelt macht mir langsam Sorgen. Glaubst du, es hält?«
    Wie ein Ertrinkender, der an der Oberfläche des Ozeans auftaucht, wand ich mich benommen aus den Tiefen meines beunruhigenden Traums heraus. Ich brauchte ungefähr eine Minute, um zu kapieren, warum Stuart sich solche Sorgen machte: Der Wind hatte die Hälfte unserer Nylon-Trutzburg umgeweht, die nun bei jeder Bö wild umherschlug. Einige Zeltstangen waren arg verkrümmt, und im Licht meiner Stirnlampe sahen wir, daß zwei der Hauptnähte drauf und dran waren, auseinanderzureißen. Die Luft im inneren Zelt war voller umherwehender Schneepartikel, die alles mit Reif bedeckten. Der Wind blies mit einer Heftigkeit, wie ich es noch nie erlebt hatte, nicht einmal auf dem patagonischen Gletscherplateau, das als der windigste Orc auf dem ganzen Planeten gilt. Wenn das Zelt vor Tagesanbruch in Stücke gerissen würde, saßen wir tief in der Patsche.
    Stuart und ich sammelten unsere Stiefel und all unsere Kleidung ein und brachten uns dann auf der zum Wind gelegenen Seite des Zeltes in Stellung. Mit Rücken und Schultern stützten wir die angeschlagenen Zeltstangen und stemmten uns gegen den Orkan. Trotz unendlicher Erschöpfung hielten wir unser kleines Nylon-Häubchen aufrecht, so als würde unser Leben davon abhängen. Immer wieder mußte ich an Rob denken, wie er bei 8 750 Metern auf dem Südgipfel festsaß, sämtliche Sauerstoffreserven aufgebraucht, völlig schutzlos der ganzen Wucht

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