In eisige Höhen
zu, einem kleinen Weiler mit einem halben Dutzend Häusern und Hütten, die sich auf einem Hügel oberhalb des Flusses aneinanderdrängten. Bei Einbruch der Dunkelheit wurde die Luft winterlich kalt, und als ich mich am Morgen wieder auf den Weg machte, hatte sich auf den Blättern der Rhododendronsträucher eine Schicht funkelnder Eiskristalle gebildet. Aber die Region um den Everest liegt schließlich nicht umsonst auf dem nördlichen 28. Breitengrad – gleich oberhalb der Tropen –, und sobald die Sonne hoch genug stand, um die Tiefen des Canyons zu durchdringen, stieg die Temperatur sprunghaft an. Gegen Mittag, nachdem wir einen kleinen wackligen Steg hoch über dem Fluß überquert hatten – die vierte Flußüberquerung des Tages –, strömte mir der Schweiß vom Kinn, und ich zog mich bis auf Shorts und T-Shirt aus.
Hinter der Brücke verließ der Pfad die Ufer des Dudh Kosi und stieg im Zickzack, durch duftende Pinienbestände hindurch, die Canyon-Wand hoch. Mehr als zwei Meilen über uns durchstießen der Thamserku und der Kusum Kangru den Himmel. Es war schon ein großartiges Gefühl, ihre gefirnten, von Sonnenlicht überfluteten Gipfel zu sehen. Es war ein wunderschöner Erdstrich, topographisch so überwältigend, wie eine Landschaft es nur sein kann, aber es war nicht Wildnis, und dies bereits seit Hunderten von Jahren nicht mehr.
Jedes Fleckchen urbares Land war terrassenförmig angelegt und mit Gerste, bitterem Buchweizen oder Kartoffeln bepflanzt. Auf Schnüren gefädelte Gebetsfahnen wehten über den Bergab-hängen, und selbst über den höchsten Bergpässen wachten uralte buddhistische
Tschorten
6 und Gemäuer aus feinziselierten
Mani-
Steinen 7 . Als ich vom Fluß hinaufstieg, stauten sich auf dem Pfad Trekker mit Yak-Herden 8 , rotgewandete Mönche und barfüßige Sherpas, die sich unter der Last von Brennholz, Kerosinkanistern oder Limonadenkästen krümmten.
Nach anderthalbstündigem Anstieg erklomm ich eine breite Brücke, ließ eine Reihe von mit Steinwällen umgebenen Yak-Weiden hinter mir und fand mich plötzlich mitten in Namche Bazaar wieder, dem wirtschaftlichen und sozialen Zentrum der Sherpas. Die Stadt – in 3 450 Meter Meereshöhe gelegen – breitet sich kesselförmig bis zur halben Höhe eines steilen Berghangs aus; aus der Ferne gesehen, erinnert sie an eine gigantische, leicht gekippte Satellitenschüssel. Mehr als einhundert Gebäude klammern sich wie Vogelnester an dem Hang fest, verbunden durch einen Irrgarten enger, unbefestigter Wege und Rampen. Am unteren Saum der Stadt konnte ich die Khumbu-Herberge ausfindig machen. Ich schob das als Eingangstür füngierende Tuch beiseite, und an einem Ecktisch des Lokals fand ich meine Teamgefährten wieder, die Zitronentee tranken.
Rob Hall stellte mir Mike Groom vor, den dritten Bergführer der Expedition. Der dreiunddreißigjährige Groom kam aus Brisbane, Australien. Er hatte karottenfarbenes Haar und war so schmächtig gebaut wie ein Marathonläufer. Von Beruf Klempner, arbeitete er nur gelegentlich als Bergführer. 1987, als er beim Abstieg von dem 8586 Meter hohen Kangchenjunga gezwungen war, eine Nacht im Freien zu verbringen, starben durch den eisigen Frost seine Füße ab, und er mußte sich sämtliche Zehen amputieren lassen. Der Rückschlag tat seiner Himalaja-Karriere jedoch keinen Abbruch: Er bestieg anschließend den K2, den Lhotse, den Cho Oyu und den Ama Dablam, 1993 dann den Everest ohne zusätzlichen Sauerstoff. Groom war ein auffallend ruhiger und umsichtiger Mann, in dessen Nähe man sich wohl fühlte. Er ergriff nur selten das Wort, es sei denn, er wurde angesprochen, und dann antwortete er knapp mit kaum hörbarer Stimme.
Die Unterhaltung beim Abendessen wurde von den beiden Ärzten bestritten – Stuart, John und vor allem von Beck, ein Muster, das sich während der gesamten Expedition regelmäßig wiederholte. Glücklicherweise waren sowohl John als auch Beck mit – gottlosem – Humor gesegnet, und oft konnten wir uns gar nicht halten vor Lachen. Beck hatte jedoch die Angewohnheit, von seinen Monologen in verletzende und unsachliche Tiraden gegen bettnässende Liberale abzuschweifen. Irgendwann an dem Abend war es soweit, und ich machte den Fehler, ihm zu widersprechen: Auf einen seiner Kommentare hin entgegnete ich, daß es meiner Meinung nach ein weiser und notwendiger Entschluß wäre, den Mindestlohn anzuheben. Beck, geübt im Debattieren, kannte sich mit dem Thema bestens aus und machte
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