In eisige Höhen
die Höhe, fast völlig hinter dem Nuptse versteckt. Wie anscheinend immer, strömte von dem Gipfel ein breiter horizontaler Kondensstreifen, der wie eine gefrorene Rauchfahne wirkte und die ganze ungestüme Kraft der Strahlströmungswinde ahnen ließ.
Ich starrte etwa eine halbe Stunde lang Richtung Gipfel und versuchte mir vorzustellen, was für ein Gefühl es wohl wäre, auf diesem windgepeitschten Scheitelpunkt der Erde zu stehen. Obwohl ich Hunderte von Bergen bestiegen hatte, unterschied sich der Everest so grundlegend von all den anderen, an die ich mich bisher herangewagt hatte, daß meine Vorstellungskraft angesichts der Härte der bevorstehenden Aufgabe versagte. Der Gipfel wirkte so kalt, so hoch und so unerreichbar. Es schien mir, als hätte ich mich zu einer Expedition auf den Mond aufgemacht. Als ich mich abwandte, um den Pfad weiter hochzuwandern, war ich zwischen nervöser Vorfreude und einer beinahe lähmenden Angst hin- und hergerissen.
Am späten Nachmittag kam ich in Tengboche 9 an, dem größten und bedeutendsten buddhistischen Kloster im Khumbu. Chhongba Sherpa, der nachdenkliche, trocken- ironische Basislagerkoch, bot uns an, ein Treffen mit dem
Rimpoche
zu arrangieren – »dem obersten Lama von ganz Nepal«, wie er erklärte, »ein sehr heiliger Mann. Erst gestern hat er eine ausgedehnte Periode stummer Meditation beendet – die letzten drei Monate hat er kein Wort gesprochen. Wir werden sein erster Besuch sein. Ein besseres Omen kann man sich nicht wünschen.«
Doug, Lou und ich gaben Chhongba jeder 100 Rupien (ungefähr zwei Dollar), um rituelle
Katas
zu kaufen – weiße Seidenschals, die dem Rimpoche dargebracht werden. Dann zogen wir uns die Schuhe aus und ließen uns von Chhongba in eine kleine, zugige Kammer hinter dem Haupttempel rühren.
Auf einem Brokatkissen im Schneidersitz saß ein kleiner rundlicher Mann. Er war in weinrote Roben gewandet, hatte eine schimmernde Glatze und wirkte sehr alt und sehr müde. Chhongba verbeugte sich ehrfürchtig, sagte etwas in der Sprache der Sherpas zu ihm und gab uns ein Zeichen, näher zu treten. Der Rimpoche segnete uns einen nach dem anderen, wobei er uns die Katas um den Hals hängte. Anschließend lächelte er selig und bot uns einen Tee an. »Diesen Kata sollten Sie auf dem Gipfel des Everest tragen« 10 , klärte Chhongba mich mit feierlicher Stimme auf. »Es wird Gott gnädig stimmen und alles Unheil fernhalten.«
Ich war mir nicht ganz sicher, wie ich mich in Anwesenheit einer göttlichen Persönlichkeit zu verhalten hatte, dieser lebenden Reinkarnation eines erhabenen, aus grauen Vorzeiten stammenden Lamas. Ich hatte schreckliche Angst, mich ahnungslos einer Kränkung schuldig zu machen oder irgendeinen anderen unverzeihlichen Fehltritt zu begehen. Während ich nervös an meinem Tee nippte, wühlte Seine Heiligkeit in einem Schränkchen an seiner Seite herum, zog ein großes, kunstvoll verziertes Buch hervor und reichte es mir. Ich wischte meine schmutzigen Hände an meinen Hosen ab und öffnete es mit zittrigen Händen. Es war ein Fotoalbum. Der Rimpoche hatte, wie sich herausstellte, vor kurzem zum ersten Mal Amerika bereist, und in dem Buch waren Schnappschüsse der Reise zusammengestellt: Seine Heiligkeit vor dem Lincoln Memorial und dem Raumfahrt-Museum in Washington; Seine Heiligkeit in Kalifornien am Santa Monica Pier. Mit einem breiten Grinsen zeigte er auf seine beiden Lieblingsfotos: Seine Heiligkeit, wie er neben Richard Gere posierte, und eine Aufnahme mit Steven Seagal.
Die ersten sechs Tage des Treks vergingen wie auf einer ambrosischen Wolke. Der Pfad führte uns an Lichtungen voller Wacholderbüsche und Zwergbirken vorbei, an Blaupinien und Rhododendronsträuchern; ferner an donnernden Wasserfällen, bezaubernden Felsenmeeren und rauschenden Bächen. Am walkürischen Horizont türmten sich Gipfel, von denen ich schon als Kind gelesen hatte. Da unsere Ausrüstung von Yaks und Trägern geschleppt wurde, beschränkte sich der Inhalt meines Rucksacks auf eine Jacke, ein paar Schokoriegel und meine Kamera. Derart unbelastet und ohne Hast, verfangen in der schlichten Freude, ein fremdes, exotisches Land zu durchwandern, fiel ich in eine Art von Trance – aber die Euphorie hielt nie lange vor. Früher oder später mußte ich wieder daran denken, wohin mein Weg mich führen würde, und der Schatten, den der Everest über meine Gedanken warf, riß mich in das Hier und Jetzt zurück.
Wir wanderten jeder in seinem eigenen
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