In eisige Höhen
jene, die den Everest bestiegen haben –, genießen in ihren Gemeinden hohes Ansehen. Bedauerlicherweise ist bei denen, die zu echten Kletterstars wurden, die Gefahr, daß sie ihr Leben auf dem Berg lassen, alles andere als gering: Seit 1922, als auf der zweiten britischen Everest-Expedition sieben Sherpas in einem Lawinenunglück
umkamen, verlor eine überproportional hohe Anzahl Sherpas auf dem Everest ihr Leben – insgesamt 53. Tatsächlich machen sie mehr als ein Drittel der Everest-Todesfälle aus.
Trotz aller Risiken herrscht scharfer Wettbewerb unter den Sherpas um die zwölf bis achtzehn Posten, die auf einer typischen Everest-Expedition zu vergeben sind. Am begehrtesten sind die etwa sechs Jobs für ausgebildete Kletter-Sherpas, die mit einem Gehalt von 1400 bis 2500 Dollar für zwei Monate hochriskanter Arbeit rechnen können – eine lukrative Bezahlung in einem Land, das unter quälender Armut leidet und in dem das durchschnittliche Jahreseinkommen etwa 160 Dollar pro Kopf beträgt.
In der ganzen Khumbu-Region schießen immer mehr Herbergen und Teehäuser aus dem Boden, um dem wachsenden Zustrom westlicher Bergsteiger und Trekker gerecht zu werden. Vor allem wird jedoch in Namche Bazaar gebaut. Auf dem Weg dorthin überholte ich zahllose Träger, die aus den Wäldern in den Niederungen frisch geschlagene, zum Teil zentnerschwere Holzbalken heraufschleppten – Schinderarbeit, für die sie mit drei Dollar pro Tag entlohnt wurden.
Langjährige Besucher der Khumbu-Region stimmt der Boom in der Tourismusbranche und der Wandel, den er bewirkt hat, traurig. Denn für westliche Bergsteiger ist die Gegend ein Paradies auf Erden, sozusagen ein Shangri-La des wirklichen Lebens. Ganze Täler sind vom Kahlschlag betroffen, um die Nachfrage nach Holz zu befriedigen. Die Teenager, die sich in Namches Carrom-Spielhallen herumtreiben, tragen eher Jeans und Chicago-Bulls-T-Shirts als die kunstvollen traditionellen Roben. Und abends drängt sich die Familie vor dem Fernsehapparat zusammen und zieht sich ein Video von Schwarzeneggers letztem Opus rein.
Der tiefgreifende Wandel, den die Khumbu-Kultur durchläuft, ist sicherlich nicht nur zum besten, aber die wenigsten Sherpas beklagen sich über die Veränderungen. Dank der harten Währung der Trekker und Bergsteiger sowie der Zuschüsse internationaler Hilfsorganisationen, die von Trekkern und Bergsteigern unterstützt werden, wurde die Finanzierung von Schulen und Krankenhäusern ermöglicht, die Kindersterblichkeit reduziert und Brücken gebaut. Namche und andere Dörfer sind mittlerweile an ein hydroelektrisch betriebenes Stromnetz angeschlossen. Es zeugt von haarsträubender Herablassung, wenn Westler den Verlust der guten alten Zeiten beklagen, als das Leben in Khumbu noch so richtig schön unverfälscht und pittoresk war. Die meisten Einwohner dieser rauhen Bergwelt wollen weder von der neuzeitlichen Welt abgetrennt sein noch von dem Durcheinander und dem ständigen Fluß des menschlichen Fortschritts. Die Sherpas sind wahrlich nicht daran interessiert, als Fallbeispiele einer Spezies in einem Museum der Anthropologie aufbewahrt zu werden.
Ein durchtrainierter Wanderer, der bereits an die Höhenluft akklimatisiert ist, könnte die Strecke zwischen dem kleinen Behelfsflugplatz in Lukla und dem Basislager des Everest in zwei, drei langen Tagesmärschen zurücklegen. Da aber die meisten von uns erst kurz zuvor aus Höhenlagen nahe dem Meeresspiegel angereist waren, hielt uns Hall absichtlich im Bummeltempo, so daß wir uns allmählich an die zunehmend dünne Luft gewöhnen konnten. Nur selten wanderten wir länger als drei, vier Stunden pro Tag. Mehrmals, wenn Halls Wegplan zusätzliche Akklimatisierung verlangte, legten wir ganze Rasttage ein.
Nachdem wir einen Akklimatisierungstag in Namche verbracht hatten, nahmen wir am 3. April unseren Marsch Richtung Basislager wieder auf. Zwanzig Minuten nachdem wir das Städtchen hinter uns gelassen hatten, eröffnete sich mir nach einer Biegung plötzlich ein atemberaubendes Panorama. 600 Meter unter mir erblickte ich den Dudh Kosi, der eine tiefe Kerbe in das ihn umgebende Muttergestein schnitt und sich wie eine schimmernde Silbersträhne aus den Schatten erhob. 3000 Meter über mir im Gegenlicht schwebte der riesige Stachel des Ama Dablam gespenstisch über der Talpforte. Und weitere 2.000 Meter höher – der Ama Dablam wirkte dagegen wie ein Zwerg – wuchtete sich die gefirnte Gipfelpyramide des Everest selbst in
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