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In eisige Höhen

Titel: In eisige Höhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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Postangestellter, der 1995 mit Hall auf den Everest gegangen war und wie Fischbeck den Südgipfel erreicht hatte, bevor er gezwungen war umzukehren. Ich wußte nicht, was ich von meinen Mitkunden halten sollte. Was Einstellung und Erfahrung anging, waren sie nicht mit den Hardcore-Kletterern zu vergleichen, mit denen ich normalerweise in die Berge ging. Aber sie schienen nette, vernünftige Leute zu sein, und in der ganzen Gruppe gab es kein einziges ausgemachtes Arschloch – zumindest keins, das seine wahre Natur während dieser frühen Phase der ganzen Veranstaltung zeigte. Dennoch hatte ich mit meinen Teamkameraden nicht viel gemein, mit Ausnahme von Doug. Er war ein zäher drahtiger Kerl, der gerne einen draufmachte, mit einem verlebten, frühzeitig gegerbten Gesicht, das an einen alten Fußball erinnerte. Seit über siebenundzwanzig Jahren arbeitete er bei der Post. Um das Geld für die Reise zusammenzukratzen, hatte er, wie er mir erzählte, Nachtschichten geschoben und tagsüber auf dem Bau gearbeitet. Da ich vor meiner Karriere als Schriftsteller acht Jahre lang meinen Lebensunterhalt als Schreiner bestritten hatte – und weil unsere Steuerklasse uns auffällig weit von den anderen Kunden entfernte-, fühlte ich mich in Dougs Gegenwart von Anfang an wohl, während ich mit den anderen nicht so recht warm wurde.
    Die meiste Zeit über schrieb ich meine wachsende Beklommenheit der Tatsache zu, daß ich nie zuvor als Mitglied einer so großen Gruppe auf einen Berg gegangen war – einer Gruppe mir völlig unbekannter Menschen obendrein. Abgesehen von einer Alaska-Reise, die bereits einundzwanzig Jahre zurücklag, hatte ich all meine vorhergehenden Expeditionen entweder allein oder mit einem oder zwei bewährten Freunden unternommen.
    Beim Bergsteigen muß man sich auf seinen Partner verlassen können. Wohl und Wehe eines ganzen Teams hängen oft von dem Verhalten eines einzelnen Kletterers ab. Die Konsequenzen eines schlechtgezurrten Knotens, eines Stolperns, eines sich lösenden Felsbrockens oder irgendeiner anderen Nachlässigkeit hat die gesamte Seilschaft zu tragen, nicht nur derjenige, der sie begeht. Es ist also nicht weiter verwunderlich, wenn Bergsteiger sich nur ungerne mit Leuten zusammentun, über deren Verläßlichkeit sie sich nicht im klaren sind.
    Aber Vertrauen in die eigenen Gefährten ist ein Luxus, der denjenigen verwehrt bleibt, die sich als zahlende Kunden bei einer geführten Bergtour anmelden. Man muß sein Vertrauen statt dessen dem Bergführer schenken. Als der Hubschrauber Richtung Lukla dröhnte, wurde ich den Verdacht nicht los, daß all meine Kameraden genau wie ich inständig hofften, daß Hall Leute mit zweifelhaftem Können schon von vornherein ausgesiebt hatte und daß er gut genug war, jeden von uns vor den Schwächen des anderen zu schützen.
     

KAPITEL VIER
    Phakding
31. März 1996
2800 Meter

Für diejenigen, die sich ein bißchen beeilten, endeten unsere Tagesmärsche zwar am frühen Nachmittag, aber nur selten, bevor die Hitze und unsere schmerzenden fuße uns zwangen, jeden
vorbeikommenden Sherpa zu fragen:
»
Wie weit ist es noch bis zum Lager?
«
Die Antwort war, wie wir bald entdeckten, immer die gleiche: »Nur noch zwei Meilen, Sah'b...«
    Unsere Abende waren ruhig und friedlich. Rauch stieg in die stille Luft auf und dämpfte die Abenddämmerung. Auf dem Bergkamm, auf dem wir am nächsten Morgen unser Lager aufschlagen würden, blinkten Lichter, und Wolken verdunkelten die Silhouette unseres nächsten Bergpasses. Mit wachsender Erregung dachte ich immer wieder an den Westgrat...
    Es gab auch Momente der Einsamkeit, bei Sonnenuntergang, aber meine alten Zweifel kamen jetzt nur noch selten in mir hoch. Dann überkam mich ein flaues Gefühl, so als läge mein ganzes Leben bereits hinter mir. Ich wußte jedoch (oder ging davon aus), daß dieses Gefühl, wenn ich einmal auf dem Berg stand, in der tiefen Konzentration des Anstiegs aufgehen würde. Und dann wiederum gab es Momente, in denen ich mich fragte, ob ich diesen weiten Weg im Endeffekt nur deshalb zurückgelegt habe, um zu erkennen, daß ich das, was ich suchte, längst hinter mir gelassen hatte.
    THOMAS F. HORNBEIN
    Everest: The West Ridge
     
    Von Lukla aus führte uns der Weg nach Norden, durch die in der Abenddämmerung liegende Felsschlucht des Dudh Kosi, eines eiskalten, mit Feldblöcken durchsetzten und von Gletscherschutt aufgewühlten Gebirgsflusses. Die erste Nacht unseres Treks brachten wir in Phakding

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