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In eisige Höhen

Titel: In eisige Höhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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Hackfleisch aus meinem täppisch vorgetragenen Bekenntnis. Mir fehlten einfach die Mittel, um nicht zu sagen, das nötige Kleingeld, um seine Argumente zu widerlegen. So blieb mir nichts anderes übrig, als die Hände in die Taschen zu stecken, meine Zunge im Zaum zu halten und wütend vor mich hin zu kochen.
    Als er nicht mehr aufhörte, in seinem sumpfigen texanischen Tonfall über die vielen Irrsinnigkeiten des Wohlfahrtsstaates herzuziehen, stand ich auf und verließ den Tisch. Ich wollte mich nicht weiter demütigen lassen. Später kehrte ich in den Speisesaal zurück, ging zu der Besitzerin hinüber und bestellte ein Bier. Die kleine, zierliche Sherpani war gerade dabei, die Bestellung einer Gruppe amerikanischer Trekker aufzunehmen. »Wir sind hungrig«, verkündete ein rotbäckiger Typ in überlautem Idioten-Englisch, einen Essenden nachahmend. »Wollen Kar-tof-feln essen. Yak-Burger. Co-ca-Co-la. Sie haben?«
    »Möchten Sie die Speisekarte haben?« erwiderte die Sherpani in klarem, ausgezeichnetem Englisch mit leichtem kanadischem Akzent. »Wir haben eigentlich eine recht große Auswahl. Und ich glaube, es ist sogar noch was von dem frisch gebackenen Apple-Pie da, für den Fall, daß Sie welchen zum Nachtisch wünschen.«
    Dem amerikanischen Trekker war es anscheinend unbegreiflich, daß diese Frau aus den Bergen mit ihrer dunkelbraunen Hautfarbe ihn in perfekt akzentuierter englischer Hochsprache anredete; er beharrte weiterhin auf sein aberwitziges Idioten-Idiom: »Speisekarte, gut. Ja, ja, wir wollen Speisekarte sehen.«
    Sherpas bleiben den meisten Ausländern, die dazu neigen, sie durch die romantische Brille zu sehen, ein Buch mit sieben Siegeln. Diejenigen, die sich mit der Bevölkerungsstruktur im Himalaja nicht auskennen, gehen häufig davon aus, daß alle Nepalesen Sherpas sind. Tatsächlich leben aber nicht mehr als 20.000 Sherpas in ganz Nepal, einem Staat von der Größe North Carolinas (das sind ca. 140.000 km 2 ), mit 20 Millionen Einwohnern aus 50 verschiedenen ethnischen Gruppen. Sherpas sind ein tiefgläubiges, buddhistisches Bergvolk, deren Vorfahren vor vier, fünf Jahrhunderten aus Tibet nach Süden wanderten. Die Dörfer der Sherpas sind auf den ganzen Himalaja des östlichen Nepals verteilt, und auch in den indischen Distrikten Sikkim und Darjeeling stößt m$n auf größere Sherpa-Siedlungen: Das Herzstück des Sherpa-Gebiets aber liegt im Khumbu, einer Reihe von Tälern, die den südlichen Hängen des Everest als Wasserabfluß dienen – einem kleinen, überschaubaren, ungewöhnlich felsigen Landstrich, der gänzlich ohne Straßen, Autos oder überhaupt ohne jeden fahrbaren Untersatz auskommen muß.
    Da in den hochgelegenen, kalten, von steilen Felswänden umgebenen Tälern Landwirtschaft nahezu unmöglich ist, konzentrierten sich die Sherpas einst vor allem auf den Handel zwischen Tibet und Indien und auf die Yak-Zucht. Mit der ersten britischen Everest-Expedition im Jahre 1921, bei der Sherpas als Helfer angeheuert wurden, trat eine grundlegende Veränderung der Kultur der Sherpas ein.
    Da das Königreich Nepal bis 1949 seine Grenzen geschlossen hielt, waren die ersten Erkundungszüge an den Everest und auch die folgenden acht Expeditionen gezwungen, sich dem Berg von Norden her, durch Tibet, zu nähern. Man kam also nie durch den Khumbu. Die ersten neun Expeditionen brachen alle von Darjeeling aus nach Tibet auf, wohin viele Sherpas emigriert waren und wo sie sich unter den dortigen Kolonialherren den Ruf erworben hatten, harte Arbeiter zu sein, umgänglich und intelligent. Überdies hatten die Sherpas – die meisten von ihnen lebten seit Generationen in Dörfern in Höhenlagen von 3000 bis über 4000 Metern – den Vorzug, daß sie sich physiologisch den harten Bedingungen der hohen Gebirgslagen angepaßt hatten. Auf Empfehlung von A. M. Kellas, einem schottischen Arzt, der längere Reisen und Klettertouren mit Sherpas unternommen hatte, heuerte die Everest-Expedition von 1921 eine größere Truppe als Lastenträger und Lagerhelfer an. Eine Praxis, die seit nun schon 75 Jahren von fast allen nachfolgenden Expeditionen übernommen wurde und wird.
    In den letzten 20 Jahren ist das wirtschaftliche Leben und die Kultur des Khumbu auf Gedeih und Verderb und unwiderruflich mit dem saisonalen Zustrom der Trekker und Bergsteiger verbunden, von denen jährlich etwa 15000 die Region besuchen. Sherpas, die Klettertechniken erlernen und hoch oben in den Bergen arbeiten – insbesondere

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