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In eisige Höhen

Titel: In eisige Höhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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erhöhter Atemtätigkeit bis zu einer Veränderung des pH-Wertes im Blut und einer radikalen Erhöhung der sauerstofftransportierenden roten Blutkörperchen – eine Umstellung, die normalerweise über mehrere Wochen geht.
    Hall behauptete jedoch steif und fest, daß sich unsere Körper nach drei Touren von je sechshundert Metern übers Basislager
    hinaus genügend angepaßt hätten, um gefahrlos zu dem 8848 Meter hohen Gipfel vorzudringen. »Hat schon neununddreißigmal so geklappt, Junge«, versicherte Hall mir mit schiefem Grinsen, als ich ihm meine Zweifel gestand. »Und einige von den Typen, die mit mir auf dem Gipfel waren, haben sich fast genauso in die Hose gemacht wie du jetzt.«
     

KAPITEL SECHS

    Basislager des Everest
12. April 1996
5.400 Meter

Je auswegloser die Lage und je größer die Anforderungen an den [Bergsteiger], desto süßer fließt ihm später, nach der Erlösung von all der Anspannung, das Blut in den Adern. Die überall lauernden Gefahren sind nur dazu da, um seine Konzentration zu schärfen und stets Herr der Lage zu sein. Und vielleicht ist dies das Grundprinzip aller lebensgefährlichen Sportarten: Der Einsatz wird bewußt erhöht, um ein Höchstmaß an Kraft und Konzentration zu mobilisieren und den Kopf von Nebensächlichkeiten zu befreien. Ein Lebensentwurf im kleinen Maßstab, aber mit einem Unterschied: Anders als im Alltag, wo Fehler durch irgendeinen Kompromiß im großen und ganzen wiedergutgemacht werden können, ist jede Bewegung, jede Sekunde von tödlichem Ernst.
    A.ALVAREZ
    The Savage God: A Study of Suicide
     
    Eine Besteigung des Everest ist eine öde, umständliche Angelegenheit, die eher einem gigantischen Bauprojekt als Klettern, so wie ich es bis dato kannte, gleichkommt. Halls Team bestand aus sechsundzwanzig Leuten, unser Sherpa-Personal eingeschlossen. Alle wohlgenährt, beschützt und bei guter Gesundheit zu halten war schon ein kleines Kunststück. Hall jedoch war ein Quartiermeister, der seinesgleichen suchte, und er hatte Gefallen an der Herausforderung. Im Basislager saß er brütend über seitenlangen Computerausdrucken, in denen die ausführlichsten logistischen Details aufgeführt waren: Menüs, Ersatzteile, Werkzeuge, Medikamente, Kommunikationsgeräte, Transportterminpläne, Verfügbarkeit der Yaks. Als der geborene Techniker und Tüftler liebte er den organisatorischen Unterbau eines Unternehmens, Elektronik und technische Spielereien aller Art. In seiner freien Zeit bastelte er endlose Stunden an dem Solarenergiesystem herum oder las alte Ausgaben von
Popular Science.
    In der Tradition von George Leigh Mallory und den meisten anderen Everestern bestand Halls Strategie darin, den Berg regelrecht zu belagern. Die Sherpas richteten nacheinander vier verschiedene Camps oberhalb des Basislagers ein – von denen jedes ungefähr sechshundert Meter höher lag als das vorhergehende. Dazu mußten zentnerschwere Ladungen an Proviant, Kochutensilien und Sauerstoff-Flaschen von Camp zu Camp geschafft werden, bis das erforderliche Material komplett auf dem knapp 8000 Meter hohen Südsattel vorrätig war. Wenn alles so ablief, wie Halls grandioser Plan es vorsah, würden wir in einem Monat den Gipfel von diesem höchsten Camp – Camp Vier – in Angriff nehmen.
    Obwohl wir, die zahlende Klientel, nicht gebeten wurden, uns an den Transportern zu beteiligen 12 , unternahmen wir vor dem Gipfelanstieg wiederholt Exkursionen über das Basislager hinaus, um uns weiter zu akklimatisieren. Rob kündigte uns den ersten dieser Akklimatisierungsstreifzüge für den 13. April an – ein Tagesmarsch zum Camp Eins und zurück. Camp Eins lag auf dem höchsten Punkt des Khumbu-Gletscherbruchs, etwa neunhundert Höhenmeter weiter hoch.
    Den Nachmittag des 12. April, meinem zweiundvierzigsten Geburtstag, verbrachten wir damit, unsere Kletterausrüstung vorzubereiten. Unsere Sachen lagen überall zwischen den Felsblocken herum, und das Lager ähnelte einem edlen Hinterhofflohmarkt. Wir sortierten unsere Kleidung, justierten Ausrüstungsteile, machten die Seile gebrauchsfertig und legten die Steigeisen an unsere Schuhe an (ein Steigeisen ist ein mit Zacken versehener, unter den Schuhsohlen befestigter Eisenbügel, der den Bergsteiger gegen Abrutschen auf Eis sichern soll). Es verwunderte mich, als ich sah, wie Beck, Stuart und Lou brandneue Bergschuhe auspackten, die, wie sie selber zugaben, kaum getragen waren. Ich fragte mich, ob sie sich darüber im klaren waren, wie riskant es

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