In eisige Höhen
drei andere Kunden einhundert Meter vor dem Gipfel gezwungen, umzukehren, da es spät geworden war und der Gipfelkamm unter einer dichten, lockeren Schneedecke begraben lag. »Der Gipfel wirkte
soooo
nah«, erinnert Doug sich mit schmerzlichem Lachen. »Glaub mir, es ist seither kein Tag vergangen, an dem ich nicht daran denken muß.« Er hatte sich von Hall dazu überreden lassen, dieses Jahr zurückzukehren. Hall, dem es leid getan hatte, daß Doug der Gipfel verwehrt geblieben war, hatte Hansen einen kräftigen Preisnachlaß eingeräumt, quasi als Köder, um ihn dazu zu bewegen, es noch einmal zu versuchen.
Unter meinen zahlenden Kameraden war Doug der einzige, der ausgedehnte Klettertouren ohne professionellen Bergführer unternommen hatte. Obwohl kein Elite-Bergsteiger, war er dank fünfzehnjähriger Erfahrung in der Lage, im Gebirge auf sich selbst aufzupassen. Ich ging davon aus, daß, wenn überhaupt jemand aus unserer Expedition den Gipfel erreichte, Doug die besten Chancen hatte: Er war kräftig, hatte den nötigen Antrieb und er war bereits einmal sehr weit oben auf dem Everest gewesen.
Doug, der nur noch knapp zwei Monate vor seinem siebenundvierzigsten Geburtstag stand und seit siebzehn Jahren geschieden war, erzählte mir einmal im Vertrauen, daß er seither mit einer ganzen Reihe von Frauen zusammen war. Sie hatten ihn aber schließlich alle verlassen, weil sie es satt hatten, mit den Bergen um seine Aufmerksamkeit zu buhlen. Ein paar Wochen bevor er 1996 zum Everest aufbrach, hatte Doug einen Freund in Tucson besucht und dort eine andere Frau kennengelernt. Sie hatten sich ineinander verliebt. Eine Zeitlang überschütteten sie sich gegenseitig mit Faxsendungen, doch in den letzten Tagen hatte er nichts mehr von ihr gehört. »Schätze, sie hat mich durchschaut und einfach sausenlassen«, seufzte er ganz verzweifelt. »Dabei ist sie echt 'ne tolle Frau. Ich hab wirklich gedacht, das könnte was Ernstes werden.«
Später am gleichen Nachmittag kam er auf mein Zelt zu und wedelte mit einem frisch eingetroffenen Fax: »Karen Marie sagt, daß sie in die Nähe von Seattle zieht!« sprudelte es aus ihm heraus. »He! Die Sache könnte ernst werden. Ich seh jetzt besser mal zu, daß ich den Gipfel packe und den Everest endlich aus meinem Kopf bringe, bevor sie ihre Meinung ändert.«
Doug korrespondierte nicht nur mit der neuen Frau in seinem Leben; im Basislager brachte er auch viel Zeit damit zu, zahllose Postkarten an die Schüler der Sunrise Elementary School zu schreiben, einer öffentlichen Grundschule in Kent, die mit dem Verkauf von T-Shirts seine Everest-Tour finanziell unterstützt hatte. Er zeigte mir eine ganze Reihe von den Karten. »Manche Menschen haben große Träume, andere kleine Träume«, schrieb er einem Mädchen namens Vanessa. »Egal, ob deine groß oder klein sind, wichtig ist nur, daß du nie aufhörst zu träumen.«
Noch mehr Zeit widmete er den Faxen an seine beiden erwachsenen Kinder – Angie, neunzehn, und Jaime, siebenundzwanzig –, die er alleine aufgezogen hatte. Er hatte sein Zelt neben meinem aufgeschlagen, und jedesmal wenn ein Fax von Angie eintraf, las er es mir mit strahlenden Augen vor. »Himmel«, verkündete er, »wer hätte gedacht, daß so ein verkorkster Typ wie ich so ein tolles Kind großzieht?«
Ich verschickte meinerseits nur wenige Karten oder Faxe. Vielmehr zerbrach ich mir den Kopf darüber, wie ich wohl weiter oben auf dem Berg zurechtkommen würde, vor allem in der sogenannten Todeszone bei über 8000 Metern. Ich hatte zwar erheblich mehr Erfahrung als die anderen Kunden – und auch als die meisten der Bergführer –, wenn es um technisches Feisund Eisklettern ging. Aber technische Beschlagenheit war auf dem Everest so gut wie wertlos, und praktisch alle meine Teamkameraden hatten mehr Zeit in großen Höhenlagen verbracht als ich. Tatsächlich befand ich mich hier im Basislager – das erst an der Fußspitze des Everest gelegen war – höher als je zuvor in meinem Leben.
Hall schien dies nicht weiter zu jucken. Nach sieben Everest-Expeditionen, erklärte er, habe er einen feinabgestimmten, erstaunlich wirkungsvollen Akklimatisierungsplan entwickelt, um uns nach und nach an den geringen Sauerstoffgehalt der Luft zu gewöhnen. (Im Basislager war der Sauerstoffgehalt ungefähr halb so hoch wie auf Meeresspiegelhöhe; auf dem Gipfel nur ein Drittel.) Der menschliche Körper paßt sich zunehmender Höhenluft auf vielfältige Art und Weise an: von
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