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In eisige Höhen

Titel: In eisige Höhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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Ende des Gletscherbruchs bis zu seiner Spitze über eine Meile an Fixseilen gelegt. An meiner Hüfte hing ein sieben Zentimeter langer Haltestrick mit Karabinerhaken. Ich war also nicht durch ein mit einem Teamkameraden verbundenes Seil gesichert, sondern dadurch, daß ich mich mit dem Karabinerverschluß ans Fixseil hakte, um beim Anstieg daran entlangzugleiten. Dank dieser Klettertechnik konnten wir uns schnellstmöglich durch die gefährlichsten Stellen des Eisbruchs bewegen. Darüber hinaus mußte niemand die Verantwortung für sein Leben den Teamkameraden anvertrauen, von denen man nicht wußte, wie es denn nun tatsächlich um ihre Fähigkeiten stand. Wie sich herausstellte, war es während der gesamten Expedition nicht ein einziges Mal nötig, mich an einen anderen Bergsteiger zu seilen.
    Wenn im Gletscherbruch auch nur wenig an orthodoxem Kletterkönnen gefragt war, so verlangte er einem andererseits ein ganzes Repertoire an neuen Fertigkeiten ab – zum Beispiel die Fähigkeit, in Bergschuhen und Steigeisen auf Zehenspitzen über drei wacklige, jeweils an ihren Enden miteinander verzurr- ten Leitern zu gehen. Sie überbrückten die Gletscherspalten, die so furchterregend waren, daß es einem den Schließmuskel zusammenzog. Es gab viele solche Überquerungen, und ich habe mich nie an sie gewöhnen können.
    Einmal, im Zwielicht kurz vor Anbruch der Dämmerung, tippelte ich unsicher auf einer kippeligen Leiter von einer Sprosse zur nächsten, und plötzlich, wie bei einem Erdbeben, erzitterte das Eis, auf dem die Leiter an beiden Enden lag. Einen Augenblick später folgte ein ohrenbetäubendes Donnern – von irgendwo oben kam ein riesiger Serac hinuntergestürzt. Ich blieb wie angewurzelt stehen, das Herz in der Hose, aber die Eislawine ging irgendwo fünfzig Meter zu meiner Linken nieder, ohne Schaden anzurichten. Ich wartete ein paar Minuten, und als ich mich schließlich wieder gefangen hatte, holperte ich ans andere Ende der Leiter weiter.
    Ein weiterer Unsicherheitsfaktor beim Überqueren der Leitern war die Tatsache, daß sich der Gletscher ständig verändert. Als Folge der ständigen Bewegung hatten Gletscherspalten sich teilweise wieder zusammengezogen und die Leitern wie Zahnstocher verbogen. Dann wiederum konnte eine Gletscherspalte sich ausgeweitet haben, so daß die Leitern kaum noch Halt hatten und fast schon in der Luft schwebten. Wenn die Nachmittagssonne das Eis und den Schnee erwärmte, schmolzen die Eisenhaken 15 frei, mit denen die Leitern und Seile gesichert waren. Obwohl die Haken täglich kontrolliert und wo nötig ausgebessert wurden, bestand die Gefahr, daß sich ein Seil unter Körpergewicht losreißen würde.
    Aber auch wenn der Eisbruch eine mühselige, angsteinflößende Plackerei war, so hatte er durchaus seinen Reiz. Wenn die Morgendämmerung die Düsternis aus dem Himmel wusch, offenbarten die Eistrümmer des Gletschers sich als eine dreidimensionale Landschaft von halluzinatorischer Schönheit. Es war fünfzehn Grad unter dem Gefrierpunkt. Meine Steigeisen bohrten sich mit einem beruhigenden Knirschen in die Kruste des Gletschers. Ich schlängelte mich am Fixseil entlang durch einen Irrgarten ringsum aufschießender, kristallblauer Stalagmiten. Von beiden Seiten des Gletschers stemmten sich steile, von Eisbändern durchzogene Felsvorsprünge vor wie die Schultern eines feindseligen Gottes. Ganz versunken in meine Umgebung, dem Ernst der Aufgabe und der Anstrengung, verlor ich mich immer mehr in der Freude am Bergsteigen, und ein, zwei Stunden lang war sogar die Angst vergessen.
    Nachdem wir dreiviertel des Weges zu Camp Eins zurückgelegt hatten, machten wir Rast. Hall meinte, daß er den Eisbruch noch nie in so gutem Zustand gesehen hätte: »Mensch, die Route ist diese Saison 'ne richtiggehende Autobahn.« Aber nur wenig höher, bei 5 800 Metern, führten uns die Seile an den Fuß eines gewaltigen, mit seinem Gleichgewicht ringenden Serac. Das Ding war so wuchtig wie ein zwölfstöckiges Hochhaus und ragte im Winkel von dreißig Grad gegen die Senkrechte über unsere Köpfe hinaus. Die Route folgte einem natürlichen Laufsteg, der sich im scharfen Winkel zu den überhängenden Eismassen hochwand: Wir mußten uns also über diesen abstrusen Eisturm hinwegschleppen, um seiner drohenden Tonnenlast zu entkommen.
    Sicherheit hing, wie mir klarwurde, von der Geschwindigkeit ab. Ich nahm also die Beine unter die Arme und hechelte auf den vergleichsweise sicheren Gipfel des Seracs

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