In eisige Höhen
rüberschieben mußte. Ein paar von den anderen Teams aus jenem Jahr, die nicht einsehen wollten, daß der Everest nicht mehr länger nur ein Berg, sondern eine Handelsware war, gerieten darüber in Rage. Und am lautesten zeterte Rob Hall, der ein kleines, fast mittelloses neuseeländisches Team anführte.
Hall nörgelte, daß die Amerikaner »den Geist der Berge verletzen« würden und eine beschämende Form von alpiner Erpressung begingen. Aber Jim Frush, ein nüchterner Anwalt, der das amerikanische Team anführte, blieb ungerührt. Mit zusammengebissenen Zähnen erklärte Hall sich schließlich bereit, Frush einen Scheck zu schicken, und durfte so den Gletscherbruch passieren. (Frush erklärte später, daß Hall seine Schulden nie bezahlt hat.)
Innerhalb von zwei Jahren jedoch machte Hall eine Kehrtwendung und sah schließlich ein, daß es durchaus sinnvoll war, für den Gletscherbruch eine Art Durchgangszoll zu erheben. Mehr noch, von 1993 bis 1995 meldete er sich für die Arbeit freiwillig und kassierte die Gebühr selbst. Im Frühling 1996 zog er es vor, die Verantwortung für den Eisbruch nicht zu übernehmen. Aber er bezahlte freudig den Führer der konkurrierenden kommerziellen 14 Expedition – einem schottischen Everest-Veteranen namens Mal Duff –, um den Job auszuführen.
Lange bevor wir überhaupt im Basislager angekommen waren, hatte eine Gruppe von Sherpas – von Duff eingestellt – einen im Zickzack verlaufenden Weg durch die Seracs gebahnt. Sie spannten mehr als eine Meile an Seil aus und legten an die sechzig Aluminiumleitern über die Bruchstellen des Gletschereises. Die Leitern wurden von einem geschäftstüchtigen Sherpa aus dem Dorf Gorak Shep gegen Gebühr verliehen. Der Mann verdiente sich damit jede Saison ein hübsches Sümmchen.
Nun stand ich also am 13. April, einem Samstagmorgen, um 4 Uhr 45 am Fuße des sagenumwobenen Gletscherbruchs und schnallte in der kühlen Düsternis vor Anbruch der Dämmerung meine Steigeisen an.
Bärbeißige alte Alpinisten, die mehr als nur einmal knapp am Tod vorbeigeschrammt sind, raten ihren jungen Schützlingen immer wieder, daß man, um dem Tod zu entkommen, auf seine »innere Stimme« hören soll. Zahllose Geschichten kursieren über diesen oder jenen Bergsteiger, der beschloß, in seinem Schlafsack zu bleiben, nachdem er (oder sie) irgendwelche unheilverkündenden Schwingungen im Äther bemerkt hatten. Und dadurch einer Katastrophe entging, die andere, die den Vorzeichen keine Beachtung schenkten, ausradierte.
Ich zweifelte keineswegs daran, daß es zuweilen durchaus seinen Sinn hat, einem Wink des Unterbewußtseins zu folgen. Als ich darauf wartete, daß Rob voranging, sendete das Eis unter unseren Füßen eine ganze Serie von weithin hörbaren Knacklauten aus – wie kleine Bäumchen, die entzweigebrochen werden –, und ich spürte, wie ich bei jedem Knallen und Rumpeln aus den sich in ständiger Bewegung befindlichen Tiefen des Gletschers zusammenzuckte. Das Problem war, daß meine innere Stimme der eines aufgeregten Suppenhuhns glich: Sie schrie mir zu, daß ich drauf und dran sei zu sterben. Aber das tat sie ja beinahe jedesmal, wenn ich meine Bergschuhe schnürte. Ich tat daher mein möglichstes, meine filmreifen Phantasiebilder zu ignorieren, und folgte Rob mit grimmiger Miene in das gespenstisch blaue Labyrinth.
Auch wenn ich mich noch nie zuvor in einem dermaßen furchteinflößenden Gletscherbruch wie dem Khumbu befunden hatte, war ich bereits durch viele andere Eisbrüche geklettert. Typisch sind die vertikalen oder gar überhängenden Übergänge, die viel Geschick im Umgang mit Eispickel und Steigeisen verlangen.
Dem Khumbu-Gletscherbruch mangelte es sicher nicht an steil aufschießendem Eis, aber an sämtlichen Übergängen waren Leitern, Seile oder beides angebracht. Daher waren die konventionellen Mittel und Techniken des Eiskletterns im großen und ganzen überflüssig.
Mir wurde bald klar, daß auf dem Everest nicht einmal das Seil – des Bergsteigers wichtigstes Utensil – im altehrwürdigen Sinne Verwendung fand. Normalerweise ist ein Bergsteiger durch ein etwa 50 Meter langes Seil mit einem oder zwei Kameraden fest verbunden. Somit ist jeder direkt verantwortlich für das Leben der anderen. Das Anseilen ist daher eine wichtige und äußerst intime Sache. Im Gletscherbruch aber war es ratsamer, daß jeder für sich allein kletterte, ohne direkt mit den anderen verbunden zu sein.
Mal Duffs Sherpas hatten vom unteren
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