In eisige Höhen
Übelkeit überkamen. Ich brachte nicht einmal mehr einen klaren zusammenhängenden Satz zustande. Ich befürchtete schon, irgendeine Art von Gehirnschlag erlitten zu haben, und taumelte mitten in der Unterhaltung davon, verkroch mich in meinen Schlafsack und zog mir die Mütze über die Augen.
Die Kopfschmerzen waren von der zermürbenden Intensität einer Migräne, und ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was die Ursache war. Ich bezweifelte, daß es mit der Höhenluft zusammenhing, weil es erst unten nach meiner Ankunft im Basislager so richtig losgegangen war. Wahrscheinlicher war, daß es etwas-mit der starken ultravioletten Strahlung zu tun hatte, die meine Netzhäute verbrannt und mein Gehirn weich gekocht hatte. Aber was auch immer sie bewirkt hatte, die Schmerzen waren furchtbar und unerbittlich. Die nächsten fünf Stunden lag ich in meinem Zelt und versuchte alles zu vermeiden, was irgendwie die Sinne reizen könnte. Wenn ich die Augen öffnete oder sie auch nur hinter geschlossenen Lidern hin und her rollte, durchzuckte mich ein vernichtender Schmerz. Als ich es bei Sonnenuntergang nicht mehr aushalten konnte, wankte ich zum Krankenzelt hinüber, um Caroline, die Expeditionsärztin, um Hilfe zu bitten.
Sie gab mir ein starkes Schmerzmittel und sagte mir, daß ich etwas Wasser trinken sollte, aber nach ein paar Schlucken würgte ich die Tabletten samt dem Wasser und Resten vom Mittagessen wieder hoch. »Hmmm«, sinnierte Caro, während sie auf das Erbrochene blickte, das über meine Stiefel gespritzt war. »Scheint ganz so, als müßten wir es mit was anderem versuchen.« Sie gab mir eine kleine Tablette, die ich unter meiner Zunge auflösen und die mir die Übelkeit nehmen sollte. Dann mußte ich zwei Kodeintabletten schlucken. Eine Stunde später ließ der Schmerz allmählich nach. Ich weinte beinahe vor Dankbarkeit und sank in die Bewußtlosigkeit.
Ich lag dösend im Schlafsack und betrachtete die Schatten, die die Morgensonne über mein Zelt warf. Plötzlich rief Helen: »Jon! Linda ist am Telefon!« Ich warf mich in meine Sandalen, sprintete die fünfzig Meter zum Kommunikationszelt hinüber und griff völlig außer Atem nach dem Hörer.
Das gesamte Satellitentelefon- und Faxgerät war nicht größer als ein Laptop. Anrufe waren teuer – ungefähr fünf Dollar pro Minute – und nicht immer kam man durch, aber allein die Tatsache, daß meine Frau in Seattle eine dreizehnstellige Nummer wählen und mit mir auf dem Mount Everest sprechen konnte, machte mich baff. Der Anruf war zwar wie Balsam für meine gepeinigte Seele, aber die Resignation in Lindas Stimme war unverkennbar, sogar vom anderen Ende des Globus. »Mir geht's gut«, versicherte sie mir, »aber du fehlst mir.«
Vor 18 Tagen war sie in Tränen ausgebrochen, als sie mich zum Flugzeug nach Nepal gebracht hatte. »Als ich vom Flughafen zurückgefahren bin«, gestand sie, »hab ich nur noch geweint. Der Abschied war so ungefähr das Traurigste in meinem Leben. Ich glaube, ich hab auf irgendeine Art das Gefühl gehabt, daß du vielleicht nicht mehr zurückkommst, und ich fand, daß es die Sache nun wirklich nicht wert ist. Ich fand's einfach beschissen und sinnlos.«
Wir waren seit fünfzehneinhalb Jahren verheiratet. Nur ein paar Wochen nachdem wir zum ersten Mal darüber gesprochen hatten, den Sprung zu wagen, standen wir vor einem Friedensrichter und brachten's hinter uns. Ich war damals sechsundzwanzig und hatte erst kürzlich beschlossen, das Bergsteigen an den Nagel zu hängen und mich mit beiden Beinen dem ernsthaften Leben zu stellen.
Als ich Linda kennenlernte, war sie selbst Bergsteigerin gewesen – und zwar eine außergewöhnlich begabte. Aber nachdem sie den Arm gebrochen und eine schwere Rückenverletzung erlitten hatte, kam sie zu einer kühleren Einschätzung der unvermeidlichen Risiken und stieg aus. Linda wäre nie auf den Gedanken gekommen, mich zu bitten, das Bergsteigen bleibenzulassen, aber als ich ihr verkündete, daß ich vorhätte, ebenfalls auszusteigen, bestärkte sie das in ihrer Entscheidung, mich zu heiraten. Ich hatte jedoch die Faszination, die das Bergsteigen auf mich ausübte, unterschätzt und vergessen, daß es meinem ansonsten ziellosen Leben einen Sinn verlieh. Ich ahnte nichts von der inneren Leere, die ohne diesen Sport schon bald von mir Besitz ergriff. Innerhalb eines Jahres holte ich klammheimlich mein Seil wieder aus der Abstellkammer und war zurück auf den Felsen. Als ich dann 1984 in die
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