In eisige Höhen
er nicht sicher sei, aber vermute, bei dem Opfer handele es sich um einen Sherpa, der vor drei Jahren umkam.
Das 6.500 Meter hoch gelegene Camp Zwei bestand aus 120 über die Seitenmoräne verteilten Zelten. Die Höhenluft war hier so entsetzlich dünn, daß ich das Gefühl hatte, als würde ich einen fürchterlichen Rotweinkater durchmachen. Mir ging es dermaßen elend, daß ich nicht einmal lesen, geschweige denn essen konnte. Die nächsten zwei Tage lag ich die meiste Zeit regungslos im Zelt, den Kopf in den Händen vergraben, und vermied jede körperliche Anstrengung. Am Samstag besserte sich mein Zustand. Um fit zu werden und meine Akklimatisierung voranzutreiben, stieg ich etwa 300 Meter höher, und dort, etwa 50 Meter neben der Hauptroute, stieß ich auf eine weitere Leiche oder, genauer gesagt, auf die untere Hälfte einer Leiche. Die Art der Kleidung und die beinahe museumsreifen Lederstiefel deuteten darauf hin, daß das Opfer aus Europa stammte und daß die Leiche mindestens zehn, fünfzehn Jahre auf dem Berg gelegen hatte.
Der Fund der ersten Leiche hatte mich mehrere Stunden lang zutiefst erschüttert. Der Schock beim Anblick der zweiten legte sich beinahe sofort. Nur wenige der vorbeiziehenden Bergsteiger schenkten der Leiche größere Beachtung. Es war, als gäbe es auf dem Berg ein stilles Einverständnis, daß diese verwesten Überreste nicht wirklich existierten – als würde es niemand von uns wagen, zuzugeben, was hier wirklich auf dem Spiel stand.
Am Montag, dem 22. April, einen Tag nachdem wir von Camp Zwei ins Basislager abgestiegen waren, wanderten Andy Harris und ich zum südafrikanischen Lager hinüber. Wir wollten das Team kennenlernen und vielleicht herausfinden, warum sie zu solchen Aussätzigen mutiert waren. Nach einem fünfzehnminütigen Marsch den Gletscher hinunter erreichten wir ihre Zelte, die sich um die Spitze eines kleinen Hügels aus Gletscherschutt scharten. Die Flaggen von Nepal und Südafrika wehten neben Fahnen von Kodak, Apple Computer und anderen Sponsoren von zwei hohen Alu-Masten. Andy steckte den Kopf in ihr Speisezelt, ließ sein freundlichstes Lächeln aufblitzen und fragte: »Hallo, hallo. Ist jemand da?«
Wie sich herausstellte, befanden sich Ian Woodall, Cathy O'Dowd und Bruce Herrod gerade im Gletscherbruch auf dem Weg nach unten von Camp Zwei. Aber Woodalls Freundin Alexandrine Gaudin war da und sein jüngerer Bruder, Philip. Im Speisezelt befand sich ebenfalls eine junge Dame mit überschäumendem Temperament, die sich als Deshun Deysel vorstellte und uns auf der Stelle zu einem Tee einlud. Die drei schienen unbeeindruckt von den Berichten über lans Fehltritte und den Gerüchten, daß die Expedition kurz vor der Auflösung stehe.
»Ich war neulich zum ersten Mal Eisklettern«, erzählte Deysel ganz begeistert und zeigte auf einen Serac in der Nähe, an dem Bergsteiger mehrerer Expeditionen geübt hatten. »Ich fand's ganz toll. In ein paar Tagen kann ich hoffentlich mal den Gletscherbruch besteigen.« Eigentlich hatte ich vorgehabt, ihr ein paar Fragen über Ians mieses Spiel zu stellen und darüber, was sie empfunden hatte, als sie erfuhr, daß ihr Name nicht auf der Genehmigungsliste stand. Aber sie war so fröhlich und unbefangen, daß mir dazu der Mumm fehlte. Nachdem wir zwanzig Minuten lang miteinander geplaudert hatten, lud Andy das ganze Team zu einem Gegenbesuch ein, Ian eingeschlossen, »auf 'nen Sprung und 'n kleines Gläschen in unserem Camp«, später am Abend.
Als ich in unser Lager zurückkehrte, hingen Rob, Dr. Caroline Mackenzie und Scott Fischers Ärztin, Ingrid Hunt, am Funkgerät und führten mit irgend jemanden oben auf dem Berg eine angespannte Unterhaltung. Als Fischer heute früh von Camp Zwei zum Basislager abstieg, war er auf einen seiner Sherpas, Ngawang Topche, gestoßen, der sich bei 6 400 Metern aufs Gletschereis gehockt hatte. Der liebenswerte achtunddreißigjährige Bergsteiger-Veteran mit den großen Zahnlücken stammte aus dem Rolwaling-Tal und war seit drei Tagen mit Lastentransporten und anderen Arbeiten oberhalb des Basislagers beschäftigt. Seine Sherpa-Kollegen beklagten sich jedoch, er würde häufig einfach nur untätig herumsitzen und seinen Teil der Arbeit nicht erledigen.
Als Fischer ihn darauf ansprach, gestand Ngawang, daß er sich seit mehr als zwei Tagen schwach und abgekämpft fühle und unter Atemnot leide. Fischer wies ihn daraufhin an, sofort ins Basislager abzusteigen. Nun gibt es aber in der Kultur
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