In eisige Höhen
Zulassung an der örtlichen Volksschule in Khumjung, die von Sir Edmund Hillary erbaut wurde]. Er war ganz schmächtig und frühreif. Wir wurden alle mit dem Direktor und vier Lehrern in einen kleinen
Raum gepackt. Ang Dorje stand mit zitternden Knien in der Mitte und versuchte für diese mündliche Prüfung das bißchen Wissen, das er mal gepaukt hatte, wieder aufleben zu lassen. Wir haben alle Blut und Wasser geschwitzt... aber er wurde aufgenommen, allerdings mußte er wieder bei den kleinen in der ersten Klasse anfangen.«
Ang Dorje entwickelte sich zu einem guten Schüler. Nach einer schulischen Ausbildung, die bei uns etwa der achten Klasse entspricht, ging er von der Schule ab, um wieder im Bergsteiger- und Trekking-Busineß zu arbeiten. Boyd und Nelson, die mehrmals nach Khumbu zurückkehrten, sahen, wie er allmählich zum Erwachsenen wurde. »Als er endlich gut und regelmäßig zu essen bekam, wurde er schnell groß und stark«, erinnert sich Boyd. »Er hat uns einmal ganz begeistert davon erzählt, wie er in einem Schwimmbecken in Katmandu Schwimmen gelernt hat. Mit fünfundzwanzig oder so hat er Fahrradfahren gelernt. Da hatte er auch eine Phase, wo er ganz verrückt nach der Musik von Madonna war. Als er uns sein erstes Geschenk überreichte, einen sorgfältig ausgesuchten tibetanischen Teppich, wußten wir, daß er richtig erwachsen war. Es ging ihm immer darum, mehr zu geben, als zu nehmen.«
Ang Dorjes Ruf als kräftiger, findiger Bergsteiger verbreitete sich schnell unter westlichen Bergsteigern, und er wurde zum Sirdar befördert. 1992 begann er für Rob Hall auf dem Everest zu arbeiten. Als Halls Expedition 1996 vom Stapel lief, hatte Ang Dorje bereits dreimal auf dem Gipfel gestanden. Hall nannte ihn respektvoll und mit offensichtlicher Zuneigung »mein wichtigster Mann«, und bei mehreren Gelegenheiten gab er zu verstehen, daß der Ausgang unserer Expedition ganz entscheidend von Ang Dorjes Arbeit abhinge.
Als der letzte meiner Teamkameraden im Camp Eins ankam, strahlte die Sonne. Um die Mittagszeit war jedoch bereits eine hohe flaumige Zirrusschicht aus weißen Eiswolken herangeweht, und um drei Uhr wirbelten dichte Wolken über dem Gletscher, und der Schnee trommelte förmlich auf die Zelte ein. In
der Nacht stürmte es. Als ich morgens aus der Unterkunft kroch, die ich mir mit Doug teilte, war der Gletscher von mehr als dreißig Zentimetern Neuschnee bedeckt. Hoch oben rollten reihenweise Lawinen die steilen Felswände hinab, aber unser Camp lag sicher außerhalb ihrer Reichweite.
Am Donnerstag, dem 18. April, hatte der Himmel sich wieder aufgeklart. Bei Anbruch der Dämmerung packten wir unsere Siebensachen und brachen zum vier Meilen entfernten Camp Zwei auf, knapp 600 Meter höher. Der Weg führte uns über die sanft ansteigende Talsohle des Western Cwm, dem höchstgelegenen Canyon der Erde. Die hufeisenförmige Schlucht bildete das Herz des Everest-Massivs, das durch den Khumbu-Gletscher praktisch ausgehöhlt wurde. Die 7.861 Meter hohen Felswände des Nuptse schließen das Cwm von der rechten Seite ein, die Südwestwand des Everest-Massivs bildet die linke Flanke, und die breite wuchtige Front des Lhotse ragt über seiner Stirnseite.
Als wir von Camp Eins aufbrachen, herrschte eine dermaßen brutale Kälte, daß meine Hände zu steifen, schmerzenden Klauen wurden. Dann streiften jedoch die ersten Sonnenstrahlen den Gletscher, und die von Eis besprenkelten Steilwände des Cwm bündelten die Strahlungswärme wie ein Solarofen und gaben sie doppelt stark wieder ab. Ich verging plötzlich vor Hitze und befürchtete schon einen weiteren Anfall von diesen migränemäßigen Kopfschmerzen, die mich schon im Basislager gequält hatten. Ich zog mich also bis auf meine langen Unterhosen aus und stopfte eine Handvoll Schnee unter meine Baseballmütze. Die folgenden drei Stunden stapfte ich im gleichmäßigen Tempo den Gletscher hoch und machte nur halt, um aus meiner Wasserflasche zu trinken und den Schneevorrat in meiner Mütze aufzufüllen, der auf meinem verfilzten Haar zerschmolz.
Bei 6.400 Metern, ganz benommen von der Hitze, stieß ich auf ein großes, in blaues Plastik gewickeltes Etwas am Wegesrand. Meine von der Höhenluft arg beeinträchtigten grauen Zellen
brauchten wohl ein, zwei Minuten, um zu kapieren, daß dieses Etwas die Leiche eines Menschen war. Ich starrte sie völlig entsetzt und bestürzt mehrere Minuten lang an. Als ich an jenem Abend Rob danach fragte, sagte er, daß
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