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In eisige Höhen

Titel: In eisige Höhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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der Sherpas ein Element von Machismo, das viele Männer daran hindert, Gebrechlichkeiten einzugestehen. Von einem echten Sherpa wird erwartet, daß er gegen die Höhenkrankheit praktisch immun ist, vor allem von den Rolwaling-Sherpas, einer Gegend, die für ihre kräftigen, zähen Bergsteiger berühmt ist. Überdies werden jene, die krank werden und dies auch offen zugeben, oft auf eine schwarze Liste gesetzt und nicht mehr angeheuert. Deshalb hatte Ngawang Scotts Anweisung ignoriert; anstatt hinabzusteigen, kletterte er zu Camp Zwei hoch, um dort zu übernachten.
    Als Ngawang am späten Nachmittag die Zelte erreichte, war er bereits im Delirium. Er taumelte wie ein Betrunkener und hustete rosafarbenen, von Blut durchsetzten Schleim aus: alles Symptome, die auf einen fortgeschrittenen Fall eines Höhenluft-Lungenödems hindeuteten, englisch HAPE genannt – eine mysteriöse, unter Umständen tödlich verlaufende Krankheit, die durch zu schnelles Vordringen in große Höhenlagen hervorgerufen wird und bei der sich die Lungen mit Flüssigkeit füllen. 21 Das einzig wirksame Mittel gegen HAPE ist der rasche Abstieg. Wenn das Opfer zu lange in großen Höhenlagen verbleibt, stirbt es meistens.
    Anders als Hall, der darauf bestand, daß unser Team oberhalb des Basislagers stets gemeinsam kletterte, unter strenger Aufsicht der Bergführer, wollte Fischer seinen Kunden zumindest während der Akklimatisierungsphase die Möglichkeit geben, auf eigene Faust den Berg zu erkunden. Es war daher kein Zufall, daß, als Ngawang im Camp Zwei ernsthaft erkrankte, zwar vier seiner Kunden zur Stelle waren – Dale Kruse, Pete Schoening, Klev Schoening und Tim Madsen –, aber kein einziger Bergführer. Die Verantwortung, Ngawang zu bergen, fiel Klev Schoening und Tim Madsen zu. Letzterer war ein dreiunddreißigjähriger Skistreifenpolizist aus Aspen, Colorado, der vor dieser Expedition nie höher als 4300 Meter geklettert war. Er war von seiner Freundin Charlotte Fox, einer erfahrenen Himalaja-Kennerin, zu der Everest-Besteigung überredet worden.
    Als ich Halls Speisezelt betrat, war Dr. Mackenzie am Funkgerät und sagte zu jemandem auf Camp Zwei: »Geben Sie Ngawang Acetasolamid, Dexamethason und zehn Milligram Nifedipin unter die Zunge... Ja, ich bin mir über die Risiken vollkommen im klaren. Geben Sie's ihm trotzdem... Wirklich, es ist viel wahrscheinlicher, daß er an HAPE stirbt, bevor wir ihn runtergeschafft haben, als daß das Nifedipin seinen Blutdruck auf ein bedrohliches Maß senkt. Bitte, Sie müssen mir vertrauen! Geben Sie ihm einfach das, was ich gerade verordnet habe! Schnell!«
    Keines der Medikamente schien jedoch eine Besserung zu bewirken, und weder zusätzlicher Sauerstoff noch der Gamow-Sack – ein aufblasbares Plastik-Kabäuschen von der Größe eines Sargs, in dem der atmosphärische Druck erhöht und damit eine niedrigere Höhenlage simuliert wird – schien zu helfen. Schoening und Madsen begannen also im schwindenden Tageslicht Ngawang mühselig den Berg hinunterzuschleppen. Sie ließen aus dem Gamow-Sack die Luft raus und gebrauchten ihn als eine Art Schlitten. Neal Beidleman und ein Team von Sherpas kletterten ihnen vom Basislager aus so schnell wie möglich entgegen.
    Beidleman erreichte Ngawang bei Sonnenuntergang in der Nähe des oberen Endes vom Gletscherbruch und übernahm die Bergung, so daß Schoening und Madsen sich auf den Weg zurück ins Camp Zwei machen und ihre Akklimatisierung fortsetzen konnten. Der erkrankte Sherpa hatte sehr viel Flüssigkeit in den Lungen. Beidleman erinnert sich: »Sein Atem klang wie ein Strohhalm, mit dem man die letzten Tropfen eines Milchshakes aus dem Glas schlürft. Als wir den Gletscherbruch zur Hälfte geschafft hatten, nahm Ngawang seine Sauerstoffmaske ab und langte hinein, um das Ansaugventil von Schleim zu säubern. Als er die Hand wieder rausnahm, lenkte ich meine Stirnlampe auf seinen Handschuh. Er war ganz rot, voll von dem Blut, das er die ganze Zeit in die Maske gehustet hat. Dann habe ich sein Gesicht angestrahlt, und es war genauso blutüberlaufen.
    Unsere Blicke haben sich gekreuzt, und ich hab die ganze Angst in seinen Augen gesehen«, fuhr Beidleman fort. »Ich hab mir schnell was einfallen lassen und ihn angelogen, daß er sich keine Sorgen zu machen brauche, seine Lippe sei aufgeplatzt, daher das Blut. Das hat ihn ein wenig beruhigt, und wir sind dann wieder los, weiter nach unten.« Da Ngawang keiner physischen Anstrengung ausgesetzt werden

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