In eisige Höhen
absieht. Sardinenöl, Büchsenmilch und Sirup sind im ganzen Zelt verschüttet. Abgesehen von kurzen Momenten, in denen man normalerweise nicht für ästhetische Genüsse empfänglich ist, gibt es dort außer dem öden Chaos im Zelt und der schuppigen, unrasierten Visage des Kameraden nichts zu sehen – sein dumpfes Atmen wird zum Glück vom Heulen des Windes übertönt. Das Schlimmste ist das Gefühl der absoluten Hilflosigkeit und Ohnmacht im Falle eines Unglücks. Ich tröstete mich immer mit dem Gedanken, daß mich noch vor einem Jahr die Vorstellung, an unserem gegenwärtigen Abenteuer teilzunehmen, völlig aus dem Häuschen gebracht hätte, eine Hoffnung, die mir damals wie ein ferner Traum erschienen war. Aber die Höhenluft hat auf den Verstand die gleiche Wirkung wie auf den Körper; man ist weniger aufnahmebereit, brütet dumpf vor sich hin, und ich hatte nur noch den einen Wunsch, diese elende Plackerei endlich hinter mich zu bringen und in ein wenig erträglichere Breitengrade hinabszusteigen.
ERIC SHIPTON
Upon that Mountain
Nach zwei Ruhetagen im Basislager brachen wir am 16. April kurz vor Sonnenaufgang zu unserem zweiten Akklimatisierungsstreifzug in den Gletscherbruch auf. Als ich mich mit bangen Schritten durch die ächzenden und stöhnenden Eistrümmer schlängelte, merkte ich bald, daß mein Atem nicht mehr ganz so schwer ging wie bei unserem ersten Ausflug. Mein Körper fing also bereits an, sich an die Höhenluft zu gewöhnen. Die Angst, unter einem zusammenstürzenden Serac begraben zu werden, war jedoch mindestens genauso groß wie beim ersten Mal.
Ich hatte gehofft, daß der gigantische überhängende Eisturm bei 5800 Metern – von irgendeinem Scherzkeks in Fischers Team ›Mausefalle‹ getauft – mittlerweile zusammengekracht war. Er stand jedoch immer noch drohend da, ein Stück weiter vornübergekippt. Wieder trieb ich die Pumpleistung meines Herzens in die Höhe, um seinem bedrohlichen Schatten zu entkommen, und wieder sank ich auf die Knie, als ich auf dem Gipfel des Seracs ankam, atemringend und noch ganz zittrig von dem Adrenalin, das durch meine Adern jagte.
Anders als bei unserem ersten Akklimatisierungstrip, bei dem wir nach knapp einstündigem Aufenthalt im Camp Eins wieder ins Basislager abgestiegen waren, sah Robs Plan nun vor, daß wir am Dienstag und Mittwoch im Camp Eins übernachten und anschließend für einen zusätzlichen dreitägigen Aufenthalt zum Camp Zwei weiterziehen sollten.
Als ich um neun Uhr morgens Camp Eins erreichte, war Ang Dorje 19 , unser Kletter-Sirdar 20 , gerade dabei, für unsere Zelte stufenförmige Absätze ins Gefälle des hartgefrorenen Schneehangs zu graben. Der schlanke, neunundzwanzigjährige Dorje ist ein schüchterner, bisweilen launischer Mann mit feingeschnittenem Gesicht und außergewöhnlicher Kraft und Ausdauer. Während ich wartete, daß der Rest des Teams eintraf, schnappte ich mir eine freie Schaufel und half ihm beim Ausheben. Innerhalb weniger Minuten war ich völlig erschöpft und mußte mich hinsetzen, worüber der Sherpa herzhaft lachte. »Geht's dir nicht gut, Jon?« spöttelte er. »Wir sind hier erst im Camp Eins, 6.000 Meter. Die Luft ist noch ziemlich dick.«
Ang Dorje stammt aus Pangboche, einer Ansammlung von Steinhäusern und terrassenförmig angelegten Kartoffelfeldern an einem zerklüfteten, 4.000 Meter hoch gelegenen Abhang. Sein Vater ist ein hochangesehener Kletter-Sherpa, der seinem Sohn bereits sehr früh die Grundbegriffe des Bergsteigens beibrachte, damit der Junge etwas hatte, mit dem er sich seinen Lebensunterhalt verdienen konnte. Sein Vater erblindete am grauen Star, als Ang Dorje noch ein Teenager war. Er wurde von der Schule genommen, um Geld für die Familie zu verdienen.
Als er 1984 als Küchenjunge für eine Gruppe von westlichen Trekkern arbeitete, fiel er einem kanadischen Paar auf, Marion Boyd und Graem Nelson. Wie Boyd erzählte: »Mir fehlten damals meine Kinder, und als ich Ang Dorje so nach und nach kennenlernte, erinnerte er mich irgendwie an meinen ältesten Sohn. Ang Dorje war klug, aufgeweckt, lernbegierig und beinahe übertrieben gewissenhaft. Er trug riesige Lasten, und in großen Höhenlagen blutete ihm jeden Tag die Nase. Ich war ganz von ihm eingenommen.«
Nachdem Boyd und Nelson das Einverständnis der Mutter eingeholt hatten, begannen sie den Jungen finanziell zu unterstützen. Ang Dorje konnte wieder zur Schule gehen. »Ich werde nie sein Aufnahmeexamen vergessen [zur
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