In eisige Höhen
unserem Team und dem südafrikanischen weiterhin dicke Luft. Zu der spannungsgeladenen Atmosphäre auf Camp Zwei trugen zusätzlich die beunruhigenden, lückenhaften Nachrichten bei, die wir über Ngawangs sich stetig verschlechternden Zustand erhielten. Da er selbst in relativ geringer Höhenlage kränker und kränker wurde, äußerten die Ärzte den Verdacht, daß er wohl an HAPE litt, das aber unter Umständen durch eine Tuberkulose oder irgendeine andere, vorher bestehende Lungenerkrankung kompliziert wurde. Die Sherpas dagegen hatten eine ganz andere Diagnose parat: Sie glaubten, daß eine der Bergsteigerinnen in Fischers Team den Zorn des Everest – der Sagarmatha, Göttin des Himmels – erweckt hätte und daß die Göttin an Ngawang Rache geübt hätte.
Die betreffende Bergsteigerin hatte ein Verhältnis mit einem Mitglied einer den Lhotse besteigenden Expeditionen begonnen. Da es in den mietskasernenhaften Zuständen des Basislagers so etwas wie Privatsphäre praktisch nicht gibt, wurden die in dem Zelt der Frau stattfindenden Liebeszusammenkünfte von den anderen Mitgliedern des Teams entsprechend bemerkt
und kommentiert, insbesondere von den Sherpas. Während der Stelldicheins saßen sie kichernd, mit dem Finger zeigend draußen da. »[X] und [Y] haben Schäferstündchen, haben Schäferstündchen«, glucksten sie und stießen immer wieder mit dem Finger in die offene Faust.
Aber trotz des Gelächters der Sherpas (von ihren eigenen, notorisch freizügigen Sitten ganz zu schweigen) sind sie strikt gegen Geschlechtsverkehr zwischen unverheirateten Paaren auf den göttlichen Flanken des Sagarmatha. Wann immer das Wetter sich verschlechterte, dauerte es nicht lange, bis einer der Sherpas gen Himmel auf das sich zusammenbrauende Unwetter zeigte und mit ernster Miene erklärte: »Irgendwelche Leute haben Schäferstündchen gehabt. Bringt Unglück. Jetzt Sturm kommen.«
Sandy Pittman hatte in einem Tagebucheintrag ihrer Expedition von 1994, den sie 1996 im Internet verbreitete, über diesen Aberglauben geschrieben:
29. April 1994
Everest Basislager (5.400 Meter), die Kangshung-Flanke, Tibet
. ..am Nachmittag traf ein Postläufer mit Briefen aus der Heimat ein. Ein besorgter Kletterkumpel daheim war so witzig, ein Sexmagazin beizulegen...
Während die eine Hälfte der Sherpas es zur näheren Ansicht ins Zelt mitnahm, machten sich die anderen bereits Sorgen über die Katastrophe, die mit Sicherheit folgen würde. Die Göttin Chomolungma, behaupteten sie, duldet kein »Bumsi-Bumsi« – nichts, was unrein ist
– auf ihrem geheiligten Berg.
In den Buddhismus, wie er auf den Höhen des Khumbu praktiziert wird, klingt eine deutliche animistische Note mit: Die Sherpas verehren eine wirre Melange aus Gottheiten und Geistern, die nach altem Glauben die Schluchten, Flüsse und Gipfel der Region bewohnen. Um die tückische Landschaft unbeschadet zu durchqueren, wird es als unerläßlich angesehen, diesem Götterensemble in gebührender Form zu huldigen.
Um Sagarmatha zu besänftigen, hatten die Sherpas dieses Jahr – wie jedes Jahr – im Basislager in penibler Kleinarbeit mehr als ein Dutzend wunderschöner Tschorten errichtet, einen für jede Expedition. Der Altar unseres Camps war ein vollkommen regelmäßiger, etwa einsfünfzig hoher Kubus, der oben von einer Dreiergruppe sorgfältig ausgesuchter, spitz zulaufender Steine geschmückt war und von einem drei Meter hohen Holzpfahl mit einem zierlichen Wacholderzweig gekrönt wurde. Fünf langgezogene Reihen Gebetsfahnen 25 liefen in leuchtenden Farben von dem Pfahl strahlenförmig über unsere Zelte hinweg, um unser Lager vor Unheil zu schützen.
Unser Basislager-Sirdar – ein onkelhafter, hochrespektierter, um die fünfundvierzig Jahre alter Sherpa namens Ang Tshering – zündete jeden Morgen vor Tagesanbruch Räucherwerk aus kleinen Wacholderzweigen an und stimmte Gebetsgesänge bei den Tschorten an. Auf dem Weg zum Gletscherbruch zogen Westler wie Sherpas durch die süß duftenden Rauchwolken an dem Altar vorbei – der links passiert werden muß –, um Ang Tsherings Segen zu empfangen.
Trotz der großen Wichtigkeit, die solchen Ritualen beigemessen wird, ist der von den Sherpas praktizierte Buddhismus alles andere als starr und streng. Um weiter in Sagarmathas Gunst zu stehen, mußte zum Beispiel jedes Team, das zum ersten Mal in den Gletscherbruch wollte, zuerst eine
puja
hinter sich bringen, eine recht komplizierte religiöse Zeremonie. Als aber der
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