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In eisige Höhen

Titel: In eisige Höhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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tattrige gebrechliche Lama, der dazu bestellt war, die Puja zu leiten, die Reise von seinem abgelegenen Dorf an dem festgesetzten Tag nicht schaffte, erklärte Ang Tshering, daß es trotzdem okay sei, wenn wir durch den Gletscherbruch kletterten, denn Sagarmatha wüßte nun, daß wir die Absicht hätte, die Puja bald nachzuholen.
    Was außerehelichen Geschlechtsverkehr auf den Hängen des Everest betrifft, schien eine ähnlich laxe Auffassung zu herrschen. Obwohl man mit Lippenbekenntnissen zu dem Verbot nicht geizte, machten mehr als nur ein paar Sherpas für sich selbst Ausnahmen – 1996 blühte sogar eine Romanze zwischen einem Sherpa und einer Amerikanerin, die der IMAX-Expedition angeschlossen war. Es schien daher seltsam, daß die Sherpas Ngawangs Erkrankung auf die außerehelichen Zusammenkünfte zurückführten, die in einem der Mountain-Madness-Zelte stattfanden. Als ich jedoch Lopsang Jangbu Sherpa Fischers dreiundzwanzigjährigen Kletter-Sirdar – auf diesen Widerspruch hinwies, bestand er darauf, daß das eigentliche Problem nicht die Tatsache sei, daß eine von Fischers Kletterinnen im Basislager »Schäferstündchen« abgehalten hatte. Sondern vielmehr, daß sie weiterhin mit ihrem Geliebten hoch oben auf dem Berg schlief.
    »Mount Evererst ist Gott – für mich, für alle«, sinnierte Lopsang zehn Wochen nach der Expedition feierlich. »Nur Ehemann und Ehefrau miteinander schlafen, ist gut. Aber wenn [X] und [Y] miteinander schlafen, ist Unglück für mein Team... Also sage ich Scott: Bitte, Scott, du bist der Führer. Bitte sage [X], daß sie nicht mehr mit Freund auf Camp Zwei schlafen soll. Bitte. Aber Scott nur lachen. Der erste Tag, an dem [X] und [Y] zusammen im Zelt, Ngawang Topche ist gleich danach krank auf Camp Zwei. Und jetzt ist er tot.«
    Ngawang war Lopsangs Onkel. Die beiden hatten sich sehr nahegestanden, und Lopsang war bei der Rettungsmannschaft dabeigewesen, die Ngawang in der Nacht des 22. April den Gletscherbruch hinuntergebracht hatte. Als Ngawang dann in Pheriche zu atmen aufgehört hatte und nach Katmandu evakuiert werden mußte, machte Lopsang sich sofort vom Basislager
    auf (Fischer hatte ihn in seinem Entschluß bestärkt), um seinen Onkel auf dem Hubschrauberflug zu begleiten. Sein kurzer Trip nach Katmandu und der Eilmarsch zurück ins Basislager hatten ihn viel Kraft gekostet und ihn in seiner Akklimatisierung zurückgeworfen – kein gutes Vorzeichen für Fischers Team: Fischer war auf ihn mindestens ebensosehr angewiesen wie Hall auf seinen Klettersirdar Ang Dorje.
    1996 tummelten sich auf der nepalesischen Seite des Everest mehrere ausgezeichnete Himalaja-Bergsteiger – Veteranen wie Hall, Fischer, Breashears, Pete Schoening, Ang Dorje, Mike Groom und Robert Schauer, ein Österreicher im IMAX-Team. Aber vier Spitzenleute ragten selbst in dieser erlesenen Gesellschaft weit heraus – Kletterer, die in Höhenlagen von über 8.000 Metern eine dermaßen erstaunliche Meisterschaft bewiesen, daß sie eine Klasse für sich bildeten: Ed Viesturs, der Amerikaner, der in dem IMAX-Film mitspielte; Anatoli Boukreev, ein Bergführer aus Kasachstan, der für Fischer arbeitete; Ang Babu Sherpa, der von der südafrikanischen Expedition angeheuert worden war; und Lopsang.
    Lopsang, ein geselliger gutaussehender Typ, war von einer beinahe übertriebenen Freundlichkeit und darüber hinaus ein echter, zugegebenermaßen sehr charmanter Angeber. Er war als Einzelkind in der Gegend um Rolwaling aufgewachsen, ein vollkommener Abstinenzler, der weder rauchte noch trank, was unter Sherpas ungewöhnlich war. Er hatte einen protzigen goldenen Schneidezahn und lachte oft und gern. Obwohl von zierlichem Körperbau, trugen ihm sein schillerndes Wesen sowie seine Arbeitswut und seine außergewöhnlichen athletischen Fähigkeiten den Ruf eines Deion Sanders des Khumbu ein. Fischer sagte mir, daß Lopsang seiner Meinung nach das Zeug dazu hätte, »ein zweiter Reinhold Messner« zu werden – der berühmte Tiroler, bei weitem der größte Himalaja-Kletterer aller Zeiten.
    Lopsang machte zum ersten Mal Furore, als er 1993 als Zwanzigjähriger von einem indisch-nepalesischen Everest-Team als
    Träger angeheuert wurde. Die Expedition wurde von einer Inderin namens Bachendri Pal geleitet und bestand vorwiegend aus Frauen. Als jüngstes Mitglied der Expedition beschränkte sich Lopsangs Rolle anfänglich nur auf die eines untergeordneten Helfers. Aber seine Kraft und Ausdauer waren dermaßen

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