In eisige Höhen
Hall liebte es, Bergführer zu sein, und es verletzte ihn, daß einige berühmte Kletterer – auch, aber nicht nur Sir Edmund Hillary – es nicht zu würdigen wußten, mit wie vielen Schwierigkeiten das Bergführen verbunden war, und dem Beruf nicht den Respekt zollten, der ihm seiner Meinung nach gebührte.
Rob erklärte den 7. Mai, einen Dienstag, zum Ruhetag. Wir standen also alle spät auf und saßen im Camp Zwei herum, ganz nervös vor Vorfreude auf den unmittelbar bevorstehenden Gipfelvorstoß. Ich fummelte eine Weile an meinen Steigeisen und ein paar anderen Ausrüstungsteilen herum, nahm schließlich ein Taschenbuch von Carl Hiaasen zur Hand, konnte aber an nichts anderes als die Besteigung denken und überflog ständig die gleichen Sätze, ohne daß ich die Worte auch nur wahrnahm.
Schließlich legte ich das Buch wieder aus der Hand, schoß ein paar Fotos von Doug, der sich mit einer Flagge in Pose warf, die er auf Wunsch der Schulkinder aus Kent auf den Gipfel tragen wollte. Ferner durchlöcherte ich ihn nach Details über die Schwierigkeiten, mit denen man auf der Gipfelpyramide zu rechnen hatte und die ihm vom letzten Jahr noch gut in Erinnerung sein müßten. »Eins garantiere ich dir«, sagte er mit finsterem Blick, »bis wir oben angekommen sind, werden dir sämtliche Knochen weh tun.« Doug war ganz versessen darauf, beim Gipfelaufstieg dabeizusein, obwohl sein Hals ihm weiterhin arg zusetzte und er sein körperliches Tief immer noch nicht überwunden hatte. Wie er es ausdrückte: »Ich habe zuviel von mir selbst in diesen Berg gelegt, als daß ich jetzt aufgeben könnte, ohne wirklich alles gegeben zu haben.«
Später am Nachmittag durchquerte Fischer unser Lager und ging mit saurer Miene und für ihn untypisch müden Schritten zu seinem Zelt. Normalerweise war er stets gut aufgelegt. Einer seiner Lieblingssprüche lautete: »Wer sich hängen läßt, schafft's nicht auf den Gipfel, solange wir also hier oben sind, ist wirklich Heiterkeit angesagt.« Im Moment schien Scott allerdings für Heiterkeit nicht viel übrig zu haben. Er wirkte extrem schlaff und besorgt.
Da er während der Akklimatisierungsphase seine Kunden dazu ermutigt hatte, frei am Berg herumzuklettern, hatte er eine ganze Reihe unvorhergesehener Exkursionen zwischen dem Basislager und den höheren Camps durchführen müssen einige seiner Leute waren in Schwierigkeiten geraten und mußten hinuntereskortiert werden. Er hatte bereits Spezialtouren unternommen, um Tim Madsen, Pete Schoening und Dale Kruse zu helfen. Und jetzt, mitten in der dringend benötigten, anderthalb Tage langen Ruheperiode, hatte Fischer gerade einen Blitztrip von Camp Zwei zum Basislager und zurück durchführen müssen, um seinem guten Freund Dale Kruse zu helfen, der allem Anschein nach einen Rückfall seiner HACE Erkrankung erlitten hatte.
Fischer, der seinen Kunden gestern weit vorausgeklettert war, war um die Mittagszeit auf Camp Zwei angekommen, kurz nach Andy und mir. Er hatte Anatoli Boukreev angewiesen, die Nachzügler nach oben zu geleiten, immer in der Nähe des Teams zu bleiben und alle im Auge zu behalten. Boukreev ignorierte jedoch Fischers Order: Anstatt mit dem Team zu klettern, hatte er lange geschlafen, geduscht und war erst fünf Stunden nach den letzten Kunden aus dem Basislager aufgebrochen. Als Kruse also bei 6100 Metern mit rasenden Kopfschmerzen zusammenbrach, war von Boukreev weit und breit nichts zu sehen. Nachdem aus dem Western Cwm kommende Bergsteiger von Kruses Zustand berichteten, waren Fischer und Beidleman gezwungen, von Camp Zwei herunterzueilen und sich selbst um den Notfall zu kümmern.
Nicht lange nachdem sie mit dem mühseligen Abstieg Richtung Basislager begonnen hatten, trafen sie auf der Spitze des Gletscherbruchs auf Boukreev, der allein kletterte. Fischer muß den Bergführer scharf dafür gerügt haben, daß er seiner Verantwortung nicht nachgekommen war. »Ja«, weiß Kruse noch, »Scott hat sich Toli ordentlich vorgeknöpft. Er wollte wissen, warum er so weit hinter allen zurück war – warum er nicht mit dem Team kletterte.«
Nach den Aussagen Kruses und auch anderer Kunden Fischers war es zwischen ihm und Boukreev während der gesamten Expedition zu immer größeren Spannungen gekommen. Fischer zahlte Boukreev 25.000 Dollar – eine ungewöhnlich großzügige Summe für einen Everest-Führer (die meisten anderen Führer auf dem Berg erhielten zwischen 10.000 und 15.000 Dollar; ein guter Kletter-Sherpa bekam
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