In eisige Höhen
daher vierundvierzig Liter Wasser schmelzen, um den Bedarf von acht Kunden und drei Bergführern zu decken.
Da ich als erster an den Zelten angekommen war, fiel mir der Job des Eishackers zu. Während also meine Teamgefährten nach und nach im Camp eintrudelten und es sich in ihren Schlafsäcken bequem machten, hackte ich drei Stunden lang mit meinem Eispickel auf den Steilhang ein, füllte Plastikmüllsäcke mit Eis-brocken und verteilte sie an die Zelte zum Schmelzen. Bei knapp 7300 Metern war dies eine echte Plackerei. Jedesmal, wenn einer meiner Teamkameraden rief: »He, Jon! Bist du noch da draußen? Wir könnten hier drüben noch etwas Eis gebrauchen!«, bekam ich einen plastischen Eindruck davon, wieviel die Sherpas normalerweise für uns taten und wie wenig wir dies wirklich zu schätzen wußten.
Am späten Nachmittag, als die Sonne sich dem gewellten Horizont näherte und die Temperatur rapide sank, waren bis auf Lou Kasischke, Frank Fischbeck und Rob, der freiwillig den »Aufräumer« spielte und als letzter ging, alle im Lager eingelaufen. Um halb fünf herum erhielt Bergführer Mike Groom auf seinem Walkietalkie einen Anruf von Rob: Lou und Frank befanden sich immer noch knapp 100 Meter unterhalb der Zelte und kamen nur extrem langsam voran. Mike solle doch bitte herunterkommen und ihnen helfen. Mike schnallte rasch seine Steigeisen an und verschwand, ohne zu murren, an den Fixseilen nach unten.
Es dauerte fast eine geschlagene Stunde, bis er wieder auftauchte, den anderen ein paar Schritte vorausgehend. Lou, der so erschöpft war, daß er Rob seinen Rucksack tragen ließ, kam mit bleicher, verzweifelter Miene ins Lager getaumelt und wisperte nur noch: »Ich bin total fertig. Total fertig. Völlig die Luft ausgegangen.« Ein paar Minuten später lief Frank ein, der noch ausgepumpter wirkte, obwohl er Mike seinen Rucksack nicht geben mochte. Es war ein echter Schock, diese Jungs – beide hatten sich in letzter Zeit in prächtiger Form gezeigt – so kaputt und ausgebrannt zu sehen. Franks offensichtlicher körperlicher Verfall war wie ein Schlag ins Kontor: Von Beginn an war ich davon ausgegangen, daß, falls ein paar Leute unseres Teams den Gipfel erreichen, Frank – der zuvor bereits dreimal hoch oben am Berg geklettert war und einen so gescheiten und fitten Eindruck machte – einer von ihnen sein würde.
Als die Dunkelheit über das Camp hereinbrach, händigten unsere Bergführer uns Sauerstoffbehälter, Regler und Atemmasken aus; für den Rest der Besteigung würden wir komprimierte Luft atmen.
Die Praxis, Besteigungen mit zusätzlichem Sauerstoff durchzuführen, löst seit 1921, als die Briten zum ersten Mal Beatmungsapparate am Everest einsetzten, immer wieder heiße Debatten aus. (Skeptische Sherpas tauften die sperrigen Behälter prompt »englische Luft«.) Anfänglich setzte sich George Leigh Mallory an die Spitze der Kritiker von Sauerstoff-Flaschen. Er wandte ein, daß der Gebrauch »unsportlich und damit unbritisch« sei. Es zeigte sich jedoch bald, daß der Körper in der sogenannten Todeszone über 8.000 Metern ohne zusätzlichen Sauerstoff wesentlich anfälliger für HAPE und HACE ist, ferner für Unterkühlung, Erfrierungen und eine ganze Reihe anderer lebensbedrohlicher Erkrankungen. Als Mallory dann 1924 zu seiner dritten Expedition an den Berg zurückkehrte, war er zu der Überzeugung gelangt, daß der Gipfel nie und nimmer ohne zusätzlichen Sauerstoff erobert werden könne, und er nahm den Gebrauch in Kauf.
Inzwischen hatten Experimente in Höhenkammern gezeigt, daß ein Mensch, der von Meeresspiegelhöhe in die Lüfte gehoben und auf den Gipfel des Everest fallen gelassen wird, wo die Luft nur ein Drittel der Sauerstoffmenge enthält, innerhalb von Minuten das Bewußtsein verlieren und kurz danach sterben würde. Aber eine Reihe idealistisch gesinnter Bergsteiger bestanden weiterhin darauf, daß ein begnadeter, mit seltenen physiologischen Eigenschaften gesegneter Athlet nach einer längeren Akklimatisierungsphase sehr wohl in der Lage sei, den Gipfel ohne Flaschenluft zu besteigen. Wenn man diese Argumentation zu Ende denkt, dann war der Gebrauch von zusätzlichem Sauerstoff in den Augen der Puristen eine Mogelei.
In den siebziger Jahren tat sich der berühmte Südtiroler Alpinist Reinhold Messner als führender Verfechter des Bergsteigens ohne Flaschenluft hervor. Er erklärte, daß er den Everest mit »fairen Mitteln« oder überhaupt nicht besteigen würde. Kurz danach
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