In eisige Höhen
nur zwischen 1.400 und 2.500), und Boukreevs Leistungen waren weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. »Toli war körperlich sehr stark und ein sehr guter Techniker«, erklärte Kruse, »aber seine sozialen Fähigkeiten waren erbärmlich. Er hat sich nicht um die anderen Leute gekümmert. Er war einfach nicht jemand, der im Team arbeiten konnte. Schon davor hatte ich Scott gesagt, daß ich weiter oben auf dem Berg nicht mit Toli klettern will, weil ich so meine Zweifel hatte, ob ich auf ihn zählen kann, wenn's drauf ankommt.«
Das eigentliche Problem war, daß Boukreev eine ganz andere Auffassung von seinen Pflichten hatte als Fischer. Als Russe war er einer harten, stolzen, rigorosen Kletterkultur entsprungen, die nichts davon hielt, den Schwachen zu schützen. In Osteuropa wurden Bergführer mehr dazu ausgebildet, Sherpa-Arbeiten zu übernehmen – Lastentransporte, Seile anbringen, Routen legen –, und weniger dazu, sich um die Menschen zu kümmern. Boukreev, groß, blond und mit charmanten slawischen Gesichtszügen, war einer der fähigsten Höhenlagen-Kletterer der Welt, mit über zwanzigjähriger Himalaja-Erfahrung und zwei Everest-Besteigungen ohne zusätzlichen Sauerstoff. Im Laufe seiner großen Karriere hatte er eine Reihe unorthodoxe und unumstößliche Ansichten darüber entwickelt, wie der Berg bestiegen werden mußte. Er machte keinen Hehl aus seiner Überzeugung, daß es ein Fehler sei, wenn ein Bergführer seine Kunden allzusehr ans Händchen nimmt. »Wenn der Kunde den Everest nicht ohne große Hilfe vom Bergführer besteigen kann«, sagte Boukreev zu mir, »dann sollte dieser Kunde nicht auf dem Everest sein. Sonst entstehen vielleicht später große Schwierigkeiten ganz weit oben.«
Doch Boukreevs Weigerung oder Unfähigkeit, die Rolle eines konventionellen Bergführers westlicher Prägung zu spielen, brachte Fischer schier zur Verzweiflung. Darüber hinaus zwang es ihn und Beidleman dazu, einen überproportionalen Anteil der Arbeiten zu übernehmen, und bereits in der ersten Maiwoche war nicht zu übersehen, daß die zusätzliche Belastung an Fischers körperlicher Verfassung stark gezehrt hatte. Nachdem er am Abend des 6. Mai mit dem erkrankten Kruse im Basislager angekommen war, führte Fischer zwei Telefonate über Satellit nach Seattle. Er beklagte sich bitter bei seiner Geschäftspartnerin Karen Dickinson und seiner Publizistin Jane Bromet 26 über Boukreevs Dickköpfigkeit. Keine der beiden Frauen konnte ahnen, daß dies die letzte Unterhaltung sein würde, die sie je mit Fischer führen sollten.
Am 8. Mai brachen sowohl Halls als auch Fischers Team von Camp Zwei auf und machten sich daran, im zermürbenden Seilanstieg die Lhotse-Flanke hochzuklettern. 600 Meter über der Talsohle des Western Cwm, gleich unterhalb von Camp Drei, kam ein Felsbrocken von der Größe eines kleineren Fernsehers den Abhang heruntergeschossen und knallte Andy Harris mitten auf die Brust. Der Stein riß ihn von den Beinen und nahm ihm den Atem. Im Schockzustand baumelte er mehrere Minuten lang am Seil. Wenn er nicht mit einem Jumar eingehakt gewesen wäre, wäre er ohne Zweifel in den Tod gestürzt.
Als er bei den Zelten ankam, wirkte Andy noch ganz angeschlagen, behauptete aber steif und fest, daß er nicht verletzt sei. »Kann schon sein, daß ich morgen ein bißchen steif in den Beinen sein werde«, meinte er hartnäckig, »ich glaube aber, dieses Scheißding hat mir nur 'nen blauen Flecken verpaßt.« Kurz bevor der Brocken ihn traf, hatte er sich mit gesenktem Kopf vornübergebeugt und erst im allerletzten Moment zufällig aufgeblickt. Der Felsbrocken war gerade noch an seinem Kinn vorbeigeschrammt, bevor er auf seine Brust aufgeschlagen war. Aber es war schon sehr knapp, und um ein Haar wäre er auf seinen Schädel geknallt. »Wenn dieses Ding mich am Kopf getroffen hätte...«, sinnierte Andy und verzog das Gesicht. Er nahm seinen Rucksack ab, ohne den Satz zu Ende zu bringen.
Da Camp Drei das einzige Lager auf dem gesamten Berg war, das wir nicht mit den Sherpas teilten (das Felsgesims war zu schmal, um Zelte für alle aufzuschlagen), mußten wir uns hier selbst um unsere Verpflegung kümmern – was vor allem hieß, eine ungeheure Menge Schnee für Trinkwasser zu schmelzen. Wegen der ausgesprochen starken Dehydration, die eine unvermeidliche Nebenwirkung des schwergehenden Atems in dermaßen sauerstoffarmer Luft ist, verbrauchten wir alle mehr als vier Liter Flüssigkeit pro Tag. Wir mußten
Weitere Kostenlose Bücher