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In eisige Höhen

Titel: In eisige Höhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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Höhenlage verbringt«, warnte er uns, »verschlechtert sich euer körperlicher und geistiger Zustand.« Gehirnzellen starben ab. Eine gefährliche Verdickung des Bluts setzte ein. Es wurde zähflüssig wie Schlamm. Kapillargefäße unserer Netzhaut fingen unvermittelt an zu bluten. Selbst wenn wir uns ausruhten, schlug unser Herz in rasendem Takt. Rob versprach, daß »die Sauerstoff-Flaschen den körperlichen Verfall verlangsamen und ihr besser schlafen könnt«.
    Ich versuchte mich an Robs Ratschlag zu halten, mußte mich dann aber doch meiner latenten Klaustrophobie beugen. Als ich die Maske über Nase und Mund stülpte, litt ich ständig unter
    der Zwangsvorstellung, daß sie mich erstickte. Nach einer qualvollen, nicht enden wollenden Stunde nahm ich sie ab und verbrachte den Rest der Nacht ohne Kompressionsluft. Atemringend wälzte ich mich hin und her und blickte alle zwanzig Minuten auf die Uhr, um zu sehen, ob es schon Zeit wurde, aufzustehen.
    Die meisten anderen Teams hatten ihre Zelte etwa 30 Meter unterhalb unseres Camps in ebenso ungeschützter Lage in den Hang gegraben – darunter auch Scott Fischers Gruppe, die Südafrikaner und die Taiwanesen. Als ich mir also am nächsten Morgen in aller Frühe – wir schrieben Donnerstag, den 9. Mai meine Stiefel für den Anstieg zu Camp Vier überzog, kroch Chen Yu-Nan, ein sechsunddreißigjähriger Stahlarbeiter aus Taipeh, aus seinem Zelt, um seinen Darm zu entleeren. Anstatt Schuhe trug er nur das glattbesohlte Innenfutter derselben mehr als nur ein gewöhnlicher Lapsus.
    Er ging in die Hocke, verlor auf dem glitschigen Eis den Halt und stürzte die Lhotse-Flanke hinunter. Nach nur 20 Metern fiel er – unglaublich, aber wahr – kopfüber in eine Gletscherspalte, in der sein Sturz endete. Sherpas, die alles mit angesehen hatten, ließen ein Seil hinab, zogen ihn mit flinken Bewegungen aus dem Schlitz heraus und halfen ihm ins Zelt zurück. Obwohl er einiges abbekommen hatte und ihm der Schrecken noch im Nacken saß, war er anscheinend nicht ernsthaft verletzt. Damals jedenfalls hatte niemand in Halls Team, mich eingeschlossen, den Zwischenfall auch nur bemerkt.
    Kurz darauf ließen Makalu Gau und der Rest des taiwanesischen Teams Chen allein in einem Zelt zurück und brachen zum Südsattel auf. Gau hatte Rob und Scott eigentlich versichert, am 10. Mai keinen Gipfelvorstoß zu starten; aber offensichtlich hatte er seine Meinung geändert und plante nun, den Gipfel am gleichen Tag zu erobern wie wir.
    An jenem Nachmittag schaute ein Sherpa namens Jangbu, der gerade einen Lastentransport zum Südsattel erledigt hatte und sich auf dem Weg nach unten zum Camp Zwei befand, im
    Camp Drei vorbei, um nach Chen zu sehen. Er mußte feststellen, daß sich Chens Zustand erheblich verschlechtert hatte: Er hatte mittlerweile seinen Orientierungssinn verloren und litt unter fürchterlichen Schmerzen. Jangbu beschloß, ihn sofort zu evakuieren, schnappte sich zwei andere Sherpas und begann damit, Chen die Lhotse-Flanke hinunterzugeleiten. 100 Meter vom Fuße des Eishangs entfernt kippte Chen plötzlich um und verlor das Bewußtsein. Im nächsten Augenblick schaltete sich unten auf Camp Zwei David Breashears Funkgerät mit einem Knistern ein: Es war Jangbu, der völlig aufgelöst die Meldung machte, daß Chen aufgehört hatte zu atmen.
    Breashears und sein IMAX-Teamgefährte Ed Viesturs eilten sofort nach oben. Vielleicht konnte man ja noch etwas mit Wiederbelebungsversuchen machen. Aber als sie etwa 40 Minuten später Chen erreichten, gab er kein Lebenszeichen mehr von sich. Als Gau am gleichen Abend auf dem Südsattel ankam, sprach Breashears mit ihm über Funk. »Makalu«, sagte Breashears zu dem taiwanesischen Expeditionsleiter, »Chen ist tot.«
    »O.k.«, antwortete Gau. »Vielen Dank für die Information.« Dann versicherte er seinem Team, daß Chens Tod ihren Plan, um Mitternacht zum Gipfel aufzubrechen, in keiner Weise beeinflussen würde. Breashears blieb die Spucke weg. »Ich hatte seinem Freund gerade die Augen geschlossen«, sagte er mit mehr als nur einem Anflug von Wut. »Ich hatte gerade Chens Leiche nach unten geschleppt. Und alles, was Makalu dazu einfiel, war: ›O.k. ‹ Ich weiß nicht, vielleicht hat das ja was mit › andere Länder, andere Sitten ‹ und so weiter zu tun. Vielleicht dachte er ja, daß er Chen am besten dadurch die letzte Ehre erweist, indem er weiter Richtung Gipfel klettert.«
    In den letzten sechs Wochen waren mehrere schwere

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