Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

In eisige Höhen

Titel: In eisige Höhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
Vom Netzwerk:
Unglücke passiert: Tenzings Sturz in die Gletscherspalte, bevor wir überhaupt im Basislager angekommen waren; Ngawang Topches schwere HAPE-Erkrankung und sein anschließender körperlicher Verfall; dann ein schwerer Herzanfall eines allem Anschein nach gesunden, ritten englischen Bergsteigers aus Mal Duffs Team namens Ginge Fullen in der Nähe der Gletscherbruchspitze; Kim Sejberg, ein Däne aus Duffs Team, war von einem umstürzenden Serac mitgerissen worden und hatte sich mehrere Rippen gebrochen. Bis zu jenem Zeitpunkt war jedoch noch niemand gestorben.
    Die Gerüchte von Chens Tod gingen von Zelt zu Zelt und breiteten über den Berg ein Sargtuch aus. In ein paar Stunden jedoch würden 33 Bergsteiger gen Gipfel ziehen, und die düstere, gedrückte Stimmung wurde bald von einer Art nervöser Vorfreude auf das, was da kommen würde, verdrängt. Die meisten von uns waren einfach zu sehr vom Gipfelfieber gepackt und konnten oder wollten sich nicht lange mit dem Gedanken über den Tod eines Gefährten aus unserer Mitte aufhalten. Wir gingen einfach davon aus, daß wir später, nachdem wir alle auf dem Gipfel gestanden und wieder unten waren, noch genug Zeit zum Nachdenken haben würden.
     

KAPITEL ZWÖLF
    Camp Drei
9. Mai 1996
7.300 Meter

Ich blickte nach unten. Der Abstieg war alles andere als verlockend... Wir waren weit gekommen, und in jedem Meter steckten zuviel Mühsal, zu viele schlaflose Nächte und zu viele Träume. Es war schließlich nicht so, daß wir nächste Woche zurückkommen und es noch einmal versuchen konnten. Jetzt hinunterzugehen, selbst wenn es möglich gewesen wäre, hieße, in eine Zukunft hinabzusteigen, die unter einem einzigen riesigen Fragezeichen stünde: Wie wäre es gewesen ?
    THOMAS F. HORNBEIN
    Evererst: The West Ridge
     
    Am Donnerstag, dem 9. Mai, kroch ich nach meiner schlaflosen Nacht lethargisch und völlig groggy aus dem Schlafsack. Fürs Anziehen und Wasserschmelzen brauchte ich fast eine Ewigkeit. Langsam schlurfte ich aus dem Zelt. Als ich meinen Rucksack gepackt und meine Steigeisen umgeschnallt hatte, war der Rest von Halls Truppe bereits dabei, sich zu Camp Vier hochzuseilen. Zu meinem Erstaunen waren auch Lou Kasischke und Frank Fischbeck mit von der Partie. Ich war eigentlich davon ausgegangen, daß sie das Handtuch werfen würden, so schwer gezeichnet, wie sie gestern nacht im Lager eingelaufen waren. »Good on ya, mates«, rief ich aus; eine Redewendung, die ich mir kurzerhand vom australisch-neuseeländischen Kontingent unserer Expedition zugelegt hatte. Ich war beeindruckt, daß meine Gefährten dermaßen auf den Geschmack gekommen waren und beschlossen hatten weiterzumachen.
    Ich mußte mich also beeilen, um noch zu meinen Teamgefährten aufzuschließen, und als ich hinabsah, entdeckte ich einen Aufmarsch von ungefähr 50 Bergsteigern anderer Expeditionen, die sich ebenfalls an den Seilen hochließen. Die vordersten waren bereits direkt unter mir. Um in dem Gedränge nicht stekkenzubleiben (das mich, von anderen Gefahren mal ganz abgesehen, nur länger den Steintrümmern aussetzte, die salvenweise die Wand hinuntergeschossen kamen), sagte ich mir, daß ich besser einen Zahn zulegte und mich an die Spitze der Schlange schieben sollte. Da sich jedoch nur ein einziges Seil die Lhotse-Flanke hochschlängelte, war es nicht gerade leicht, langsamere Kletterer zu überholen.
    Jedesmal, wenn ich meinen Jumar aushakte, um mich an jemanden vorbeizuschieben, mußte ich an Andys Begegnung mit dem herabstürzenden Felsbrocken denken – selbst ein kleinerer Stein hätte ausgereicht, um mich an die Wand hinunterzukatapultieren, wenn ich mich vom Seil losmachen mußte. An den anderen so vorbeizugehen war darüber hinaus auch kräfteauf-reibend. Um auch an allen vorbeizuziehen, mußte ich das Gaspedal eine beunruhigend lange Zeit mächtig durchgedrückt halten, etwa wie ein PS-schwacher Kleinwagen, der versucht, auf einer Steigung eine Autoschlange zu überholen. Ich kam dermaßen ins Keuchen, daß ich schon befürchtete, ich würde jeden Moment meine Sauerstoffmaske vollkotzen.
    Es war das erste Mal in meinem Leben, daß ich mit Sauerstoff-Flasche kletterte, und ich mußte mich erst daran gewöhnen. Obwohl die Vorteile in dieser Höhenlage – 7300 Meter unbestreitbar sind, waren diese anfänglich nur schwer nachzuvollziehen. Als ich mich atemringend an drei Kletterern vorbeischob, schien es mir plötzlich tatsächlich so, daß die Maske mir die Luft abwürgte. Ich riß sie

Weitere Kostenlose Bücher