In eisige Höhen
tickte bereits: Selbst beim Ausruhen in unseren Zelten verbrauchten wir wertvollen Sauerstoff. Falls das Wetter sich nicht besserte, konnten wir schlimmstenfalls den Sauerstoffhahn einfach abdrehen und hier für zirka vierundzwanzig Stunden relativ ungefährdet ausharren; danach jedoch hieß es entweder hoch oder runter.
Aber
mirabile visu,
abends um halb acht hörte der Sturm plötzlich auf. Herrod kroch aus Lous Zelt und taumelte davon, um seine Teamgefährten ausfindig zu machen. Es war zwar immer noch weit unter null Grad, aber es wehte kaum ein Lüftchen: hervorragende Bedingungen für einen Gipfelanstieg. Hall hatte ein untrügliches Gespür bewiesen: Allem Anschein nach hatte er unseren Anstieg perfekt getimt. »Jonno! Stuart!« rief er aus seinem Zelt nebenan. »Scheint ganz, als war heute der Tag, Jungs. Macht euch fertig. Die Party steigt um halb zwölf!«
Als wir unseren Tee tranken und unsere Ausrüstung für den Anstieg herrichteten, sagte kaum jemand ein Wort. Jeder von uns hatte sich für diesen Moment bis an die Grenzen des Möglichen gequält. Wie Doug hatte auch ich, seit wir vor zwei Tagen Camp Zwei verlassen hatten, kaum einen Bissen runtergekriegt und keine Minute geschlafen. Wenn ich hustete, schmerzten die gerissenen Knorpel in meiner Brust, als würde mir ein Messer zwischen die Rippen gejagt werden, und teilweise standen mir die Tränen in den Augen. Aber wenn ich eine Chance auf den Gipfel haben wollte, dann war vollkommen klar, daß ich keine andere Wahl hatte, als meine Wehwehchen zu ignorieren und einfach zu klettern.
25 Minuten vor Mitternacht stülpte ich meine Sauerstoffmaske über, schaltete meine Stirnlampe ein und stieg in die Dunkelheit hinaus. Wir waren 15: drei Bergführer, alle acht Kunden und die Sherpas Ang Dorje, Lhakpa Chhiri, Ngawang Norbu und Kami. Hall wies zwei weitere Sherpas an, Arita und Chuldum, in den Zelten zu bleiben und sich für den Fall bereitzuhalten, daß irgend etwas schieflief.
Das Mountain-Madness-Team – bestehend aus den drei Bergführern Fischer, Beidleman und Boukreev, sechs Sherpas und den Kunden Charlotte Fox, Tim Madsen, Klev Schoening, Sandy Pittman, Lene Gammelgaard und Martin Adams – brach eine halbe Stunde nach uns vom Südsattel auf. 28 Lopsang wollte eigentlich, daß nur fünf Mountain-Madness-Sherpas das Gipfelteam begleiteten und zwei sich auf dem Südsattel in Bereitschaft hielten, aber, wie er erzählt: »Scott öffnet sein Herz, sagt zu meinen Sherpas, ›alle können auf Gipfel gehen‹.« 29
Am Ende befahl Lopsang hinter Fischers Rücken einem Sherpa, seinem Vetter »Big« Pemba, zurückzubleiben. »Pemba sehr wütend mit mir«, gab Lopsang unumwunden zu, »aber ich sage ihm, ›du mußt bleiben oder ich werde dir nie wieder Job geben‹. Also bleibt er auf Camp Vier.«
Makalu Gau, der kurz nach Fischers Team aufbrach, zog mit zwei Sherpas los – sein Versprechen, daß kein Taiwanese am selben Tag wie wir einen Gipfelversuch starten würde, ignorierte er schlicht und einfach. Die Südafrikaner hatten eigentlich ebenfalls vorgehabt, gen Gipfel zu ziehen. Der aufreibende Anstieg vom Camp Drei zum Sattel hatte ihnen jedoch dermaßen zugesetzt, daß sie in ihren Zelten blieben.
Alles in allem brachen um Mitternacht dreiunddreißig Bergsteiger Richtung Gipfel auf. Obwohl wir den Sattel als Mitglieder dreier verschiedener Expeditionen verließen, hatten unsere Schicksalsfäden bereits begonnen, sich ineinander zu verweben – und mit jedem weiteren Meter, den wir nach oben stiegen, zurrten sie sich fester und fester.
Jene Nacht war von einer kühlen übersinnlichen Schönheit, die sich während des Anstiegs noch verdichtete. Seitlich über dem 8.463 Meter hohen Makalu zog ein Dreiviertelmond auf, der den Hang unter meinen Füßen in ein gespenstisches Licht tauchte und meine Stirnlampe überflüssig machte. Im fernen Südosten, entlang der indisch-nepalesischen Grenze, trieben gewaltige Gewitterwolken über die malariabringenden Sümpfe des Terai hinweg und illuminierten den Himmel mit surrealen, blauen und orangefarben zuckenden Blitzen.
Drei Stunden nach unserem Aufbruch vom Sattel beschloß Frank, daß irgend etwas an dem Tag nicht stimme. Er trat aus der Schlange heraus, kehrte um und stieg zu den Zelten hinab. Sein vierter Everest-Versuch war gelaufen.
Nicht lange danach trat auch Doug beiseite. »Er war zu dem Zeitpunkt kurz vor mir«, erinnert sich Lou. »Plötzlich trat er aus der Schlange raus und stand einfach da. Ich
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