In eisige Höhen
felsige, stufenförmig angelegte Terrain, das wir bisher bestiegen, in eine breite Rinne aus locker liegenden Schneemassen über. Ang Dorje und ich gingen abwechselnd voran und bahnten uns so einen Weg durch den wadentiefen Schnee. Um halb sechs, kurz bevor die Sonne sich in den Himmel schob, standen wir auf der Spitze des Südostgrats. Drei der fünf höchsten Berge der Welt hoben sich in einem zerklüfteten Relief vom pastellfarbenen Morgengrauen ab. Mein Höhenmesser zeigte 8400 Meter an.
Hall hatte mir deutlich zu verstehen gegeben, daß ich nicht höher klettern durfte, bis der ganze Trupp auf diesem balkonähnlichen Vorsprung zusammengekommen war. Also setzte ich mich und wartete auf meine Meute. Als Rob und Beck schließlich ankamen, hatte ich über 90 Minuten dagehockt. Während ich wartete, hatten sowohl Fischers Leute als auch die Taiwanesen aufgeholt und waren an mir vorbeigezogen. Es war ein frustrierendes Gefühl, soviel Zeit zu verlieren, und ich war ziemlich sauer, hinter all den anderen zurückgefallen zu sein. Aber ich verstand Halls Gründe und verbarg meine Wut.
Während meiner nunmehr vierunddreißig Jahre als Alpinist war ich zu der Überzeugung gelangt, daß die schönsten Seiten dieses Sports vor allem in seiner Betonung auf Eigenverantwortung liegen, auf die Tatsache, daß man ganz auf sich allein angewiesen ist, kritische Entscheidungen trifft und ihre Folgen zu tragen hat. Wer sich als zahlender Kunde bei einer Führung anmeldet, so wußte ich nun, ist gezwungen, all dies und mehr aufzugeben. Ein Bergführer wird im Namen der Sicherheit immer darauf bestehen, das letzte Wort zu haben – er oder sie können es sich einfach nicht leisten, daß Klienten wichtige Entscheidungen unabhängig von ihm oder ihr treffen.
Im Verlaufe der gesamten Expedition waren die Klienten dadurch praktisch zur Passivität angehalten worden. Sherpas machten die Route klar, errichteten die Lager, kochten und erledigten die Lastentransporte. Unsere Kräfte wurden also geschont, und unsere Chancen, den Everest hochzukommen, stiegen erheblich, aber für mich war die ganze Angelegenheit höchst unbefriedigend. Manchmal kam es mir vor, als würde nicht ich den Berg erklettern, sondern daß Stellvertreter dies für mich taten. Ich habe diese Rolle zwar bereitwillig akzeptiert, um den Everest mit Hall zu besteigen, gewöhnen konnte ich mich jedoch nicht daran. Ich freute mich also wie ein Schneekönig, als er um 7 Uhr 10 auf dem Balkon ankam und mir sein O.k. gab, weiterklettern zu dürfen.
Einer der ersten, die ich überholte, nachdem ich mich wieder auf den Weg gemacht hatte, war Lopsang – er kniete im Schnee und übergab sich. Normalerweise war er in jeder Gruppe, mit der er kletterte, das stärkste Glied, obwohl er keinen zusätzlichen Sauerstoff benutzte. Wie er mir nach der Expedition einmal stolz sagte: »Jeden Berg, den ich besteige, ich gehe als erster, ich mache Seil fest. 1995 auf Everest mit Rob Hall, ich gehe als erster von Basislager auf Gipfel, ich mache alle Seile fest.« Die Tatsache, daß er sich am Morgen des 10.Mai mehr oder minder am Ende von Fischers Troß befand, schien darauf hinzuweisen, daß irgend etwas ganz und gar nicht stimmte.
Am Nachmittag zuvor hatte Lopsang, zusätzlich zu seiner übrigen Last, ein Satellitentelefon für Sandy Pittman von Camp Drei auf Camp Vier geschleppt. Als Beidleman sah, wie Lopsang sich den knochenverrenkenden, 40 Kilo schweren Packen über die Schulter warf, meinte er zu dem Sherpa, daß es nicht nötig sei, das Telefon auf den Südsattel zu schleppen, und daß er es ruhig zurücklassen solle. »Ich das Telefon nicht tragen wollen«, räumte Lopsang später ein – zum Teil deshalb nicht, weil es auf Camp Drei nur selten wirklich funktioniert hatte und kaum zu erwarten war, daß dies in den kälteren, rauheren Gefilden auf Camp Vier anders sein würde. 30
»Aber Scott mir gesagt, ›wenn du nicht tragen, ich tragen‹. Also nehme ich Telefon, binde Telefon außen auf meinen Rucksack dran und trage nach Camp Vier... Dies macht mich sehr müde.«
Und jetzt gerade hatte Lopsang Pittman fünf, sechs Stunden lang am Kurzseil den Südsattel hochgeschleppt. Die zusätzliche Anstrengung hatte ihn kräftemäßig praktisch aufgerieben und hinderte ihn nun daran, seine angestammte Rolle an der Spitze des Zuges zu übernehmen und die Route zu bestimmen. Da sein unerwartetes Fehlen in der Spitzengruppe für das Gelingen des Tages Folgen haben würde, rief seine
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