In eisige Höhen
Sherpas angelegten Vorratslager am Südgipfel holen. Bei einem vorsichtigen Verbrauch von zwei Litern pro Minute reichte jede Flasche fünf bis sechs Stunden. Zwischen vier und fünf Uhr nachmittags hätte also jeder seinen Sauerstoff verbraucht. Je nach Akklimatisierung und physischer Konstitution jedes einzelnen konnten wir zwar auch oberhalb des Südsattels weiter agieren – aber nicht richtig und nicht lange. Wir würden anfälliger für HAPE, HACE, Unterkühlung, Geistesschwäche und Erfrierungen werden. Das Todesrisiko würde sich vervielfachen.
Hall, der den Everest bereits viermal bestiegen hatte, wußte so gut wie alle anderen, wie wichtig es war, rasch hoch- und wieder runterzukommen. Da er an den klettertechnischen Fähigkeiten mancher seiner Kunden Zweifel hegte, nahm er sich also vor, die Route mit Fixseilen zu versehen, um sowohl uns als auch Fischers Gruppe so schnell und sicher wie möglich über die schwierigsten Stellen zu hieven. Die Tatsache, daß es dieses Jahr noch keine Expedition bis zum Gipfel geschafft hatte, bereitete ihm Kopfzerbrechen, da es bedeutete, daß der größere Teil des Terrains nicht mit Seilen gesichert war.
Göran Kropp, der schwedische Solo-Kletterer, war am 3. Mai bis auf 100 Höhenmeter an den Gipfel herangekommen, hatte sich jedoch nicht damit aufgehalten, Seile anzubringen. Die Montenegriner, die sogar noch höher gekommen waren, hatten ein paar Fixseile angebracht. In ihrer Unerfahrenheit verbrauchten sie jedoch alles, was sie an Seilen hatten, auf den ersten 400-500 Metern oberhalb des Sattels – letztlich reine Verschwendung, da das Gelände dort relativ sanft ansteigt und Fixseile praktisch überflüssig waren. Am Morgen unseres Gipfelangriffs gab es daher entlang der steilen, gezackten Felsränder des oberen Südostgrats nur ein paar alte, verwitterte Reste vergangener Expeditionen, die hier und da aus dem Eis ragten.
Da Hall und Fischer mit dieser Möglichkeit gerechnet hatten, beriefen sie noch vor Aufbruch aus dem Basislager ein Treffen der Bergführer beider Teams ein. Man verständigte sich darauf, daß man dem Haupttroß von Camp Vier aus je zwei Sherpas 90 Minuten vorausschickte – einschließlich der Kletter-Sirdars Ang Dorje und Lopsang. Die Sherpas hätten damit genügend Zeit, auf den meisten ungeschützten Abschnitten im Gipfelbereich noch vor Eintreffen der zahlenden Klientel Fixseile anzubringen. »Rob hat keinen Zweifel daran gelassen, wie wichtig das ist«, weiß Beidleman noch. »Er wollte um jeden Preis einen zeitraubenden Stau vermeiden.«
Aus irgendeinem unbekannten Grund brachen jedoch in der Nacht des 9. Mai keine Sherpas vor uns vom Südsattel auf. Vielleicht hinderte sie der wütende Sturm, der sich erst um 7 Uhr 30
legte, so früh wie geplant loszuziehen. Lopsang behauptete nach der Expedition beharrlich, daß Hall und Fischer die Sache schlicht abgeblasen hätten, da sie die falsche Information erhalten hatten, daß die Montenegriner die Route bis zum Südgipfel komplett mit Seilen versehen hätten.
Aber falls Lopsangs Behauptung zutrifft, dann wurde weder Beidleman noch Groom, noch Boukreev – den drei überlebenden Bergführern – von dem geänderten Plan etwas gesagt. Und falls das Vorhaben, Seile anzubringen, absichtlich fallengelassen worden war, dann hätten Lopsang und Ang Dorje keinen Grund gehabt, mit den 100 Metern Seil loszuziehen, die sie beide mit sich trugen, als sie an der Spitze ihrer jeweiligen Teams von Camp Vier aufbrachen.
Wie dem auch sei, oberhalb von 8350 Metern war die Route nicht mit Seilen gesichert worden. Als Ang Dorje und ich um 5 Uhr 30 als erste auf dem Balkon ankamen, hatten wir über eine Stunde Vorsprung vor dem Rest von Halls Gruppe. Es wäre für uns also kein Problem gewesen, vorauszugehen und Seile anzubringen. Aber Rob hatte mir ausdrücklich verboten vorauszuklettern, und da Lopsang immer noch weit zurück war, mit Pittman am Kurzseil, gab es weit und breit niemanden, der Ang Dorje begleiten konnte.
Ang Dorje, der ein stilles, launisches Wesen hatte, schien besonders düsterer Stimmung, als wir so zusammen dahockten und den Sonnenaufgang betrachteten. Alle meine Versuche, ihn in eine Unterhaltung zu verwickeln, schlugen fehl. Seine schlechte Laune, sagte ich mir, rührte wahrscheinlich von dem vereiterten Zahn her, der ihm schon seit Wochen zusetzte. Oder vielleicht grübelte er über jene verstörende Vision nach, die er vor vier Tagen gehabt hatte: Zusammen mit einigen anderen Sherpas
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