In eisigen Kerkern (German Edition)
hab’s gleich!“
Es war eine Lüge. Der Knoten saß so fest, dass Nelli sich längst den Zeigefingernagel abgebrochen hätte, wenn er nicht so kurz geschnitten gewesen wäre. Das Motordröhnen war ganz nah. Zu nah, um noch durch den Hinterausgang abzuhauen, selbst wenn Rolf laufen könnte.
Sie stand auf und tastete sich zurück zur Tür.
„He, ich bin doch noch gar nicht frei!“
„Still, ich muss hören, was da los ist!“
Der Motorenklang war unverkennbar. Ihr Todes-Taxi zum Gletscher. War das Andi da draußen? Er musste es sein. Wer sonst sollte um die Zeit...
„Wenn der hinten herumfuhrwerkt, könnten wir vielleicht vorne raus. Da steht ja auch mein Auto.“
„Du hast nicht zufällig ein Messer, oder?“
„Nein, wieso?“
„Weil ich deine Fesseln nicht aufbekomme.“
Das Dröhnen war da. Direkt am Haus. Wurde lauter, noch lauter. Der konnte doch nicht...
Ein Ächzen war die Antwort. Es klang, als würde etwas aufs Äußerste gedehnt, während das Heulen des Motors noch anschwoll, als würde etwas unter ungeheuerem Druck platzen und bersten, splittern, reißen und zerkrachen. Das ganze Haus schien zu beben. Der Motor war so laut, als laufe er direkt im Raum.
Andi, wenn er es wäre, hätte doch Schlüssel für alle Türen und würde sich anschleichen. Er würde doch nie sein eigenes Haus einreißen, um zwei Eindringlinge zu stellen, oder? Ein völlig durchgeknallter, aufs Äußerste gereizter Andi, der sein Werk endlich vollenden wollte, vielleicht doch.
Während Nelli an den Knoten herumzerrte, nur um irgendwas zu tun, bereitete sie sich drauf vor, ihm wieder zu begegnen. Man konnte ihm nicht entkommen.
Der Motor ging würgend aus. Es war so still, dass sie ihren Atem und ihre Bewegungen hier drin hören konnten und draußen die ächzenden Scharniere der Lkw-Fahrertür. Jemand sprang aus dem Führerhaus. Man hörte ihn sich durch die Trümmer der gesprengten Hintertür seinen Weg bahnen.
„Kannst du mich nicht tragen oder ziehen?“, fragte Rolf.
Das könnte zu schaffen sein. Als letzter Ausweg.
Etwas donnerte gegen die Tür. Fäuste. Vielleicht auch was Schwereres.
„Aber ich muss erst die Säcke von der Tür wegzerren.“
Nelli ließ ihn liegen, stand auf und tastete sich durch die Finsternis in Richtung Tür zu Andis Privaträumen.
Kratzgeräusche an der anderen Tür, der von hier zur Küche. Sie hatte den falschen Zugang verbarrikadiert. Und nicht mal dran gedacht, ihren Fehler zu korrigieren, als der Laster herandröhnte. Sie hatte sich ihr eigenes Grab geschaufelt. Als hätte alles so kommen müssen, unausweichlich wie in einem Alptraum.
Der erste Sack war aus dem Weg. Nelli packte den nächsten.
„Bist du so weit?“, flüsterte Rolf.
„Gleich.“
„Vielleicht...“
In dem Moment flog die Tür auf. Es klang, als sei das Schloss mit einem Stemmeisen gesprengt worden. Mattes, kaum wahrnehmbares Nachtlicht ließ Nelli die Umrisse der Säcke erahnen. Nicht ablenken lassen, weitermachen.
„Nelli, hilf mir!“
Rolf schrie laut, in Todesangst. Es sah aus, als habe ein Schatten sich über ihn gebeugt. Etwas knackte – ein Geräusch, als breche ein Ast und springe ein Gelenk aus der Pfanne. Das letzte, was Rolf schrie, hätte wohl noch einmal Nellis Name werden sollen.
„Ne ...“, schrie er und verstummte.
Der schwarze, über ihn gebückte Schatten richtete sich auf.
Das Nachtlicht kam vom Hintereingang her über den Flur durch die aufgebrochene Tür und blendete, obwohl nur ein blauer Schimmer, ihre an totale Dunkelheit gewöhnten Augen.
Der Schatten machte einen Schritt auf sie zu.
Groß und wuchtig, stämmige Beine, ausladende Hüften, ein geduckter Kopf, halslos auf runden, kräftigen Schultern.
Das war nicht Andi!
Andi war kräftig, aber schlank, hatte schmale Hüften, kantige Schultern. Seinen Schatten kannte sie, er war v-förmig. Der Schatten vor ihr aber hatte Tropfenform. Ein breiter, fetter Tropfen. Andi würde außerdem was sagen. Trotz allem, was zuletzt gewesen war, wäre das ein freundliches Wiedersehen geworden. Er würde sich nicht schweigend nähern, würde sie nicht so entschlossen in die Enge treiben, ohne mit ihr zu spielen, ohne sie herauszufordern und auf diese ganz spezielle Andi-Art zu demütigen. Andi würde nicht die Fäuste heben und ohne Vorwarnung zuschlagen.
Sie schaffte es im letzten Moment, sich zu ducken und dem Hieb auszuweichen. Was sie streifte, war die Aura des Angreifers, ein Molekülhauch seines Körpergeruches, das
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