In eisigen Kerkern (German Edition)
den vielen Reißverschlüssen. Aus einer der Taschen hing halb eine rot-weiße Plastiktüte. An den Stiefeln die Spikes – er war es!
Andis Lippen waren eingeschrumpft und entblößten die Zähne. Papierartig spannte die Haut sich über dem Schädel. Die Gesichtsfarbe war bläulich-grünlich-blass. Haare und Bart wirkten wie künstlich aufgeklebt.
Selbst als angetauter Eisblock dünstete er noch seinen leicht modrigen Körpergeruch aus, den sie nie vergessen würde, eine Mischung aus Schweiß, Käse, Schinken und Wirtsstuben-Mief, dazu ein Schwall Verwesung.
Nelli drehte sich angewidert um, kroch im unsteten Licht der Feuerzeugflamme am Kabel entlang zur Leiter, prägte sich den Sprossenverlauf ein, ließ die Flamme verlöschen und steckte das Feuerzeug ein.
Tastend, Schritt für Schritt, Hand für Hand, arbeitete sie sich nach oben, bis ihr Kopf gegen die Klapptür stieß.
Mit einer Hand drückte sie gegen die Klappe, während sie sich mit der anderen Hand an der wackeligen Leiter festhielt.
Die Klappe ging auf, mühelos! Nichts draufgestellt, keine sonstigen Hindernisse in Sicht. Von irgendwoher fiel ein Lichtschimmer in den Raum. Nelli sah den Tisch, auf dem das Telefon stand, ein paar Mehlsäcke, sie hörte den Generator brummen. Gerda war nicht zu sehen.
Nellis Erleichterung war unbeschreiblich. Mit dem Rücken drückte sie die Klappe so weit hoch, dass sie dem Loch entsteigen konnte.
Da hörte sie unter sich ein Rascheln und Rumoren.
Was immer das war, Nelli war heilfroh, hier oben angekommen zu sein und das erst jetzt zu hören. Raus, nichts wie raus. Zur Tür. Der Lichtschein kam über den Flur aus der Küche herüber. Nachtluft wehte Nelli entgegen – der Hintereingang war zertrümmert und offen, sie war frei!
Was waren das für Stimmen?
Das Licht kam nicht direkt aus der Küche, sondern brannte wohl in der Wirtsstube, und da war jemand und stritt. Ein Mann und eine Frau. Die Frauenstimme klang nach dem keifenden Organ von Gerda.
Nelli stand wie angewurzelt und lauschte. Um etwas zu verstehen, musste sie näher heran, mindestens in die Küche hinein. Langsam, ganz leise und vorsichtig drückte Nelli die Tür ein Stück weiter auf.
„Was willst denn du überhaupt“, hörte sie Gerda schreien. „Gescheit daherreden kann jeder. Die hätt doch telefoniert, wenn ich nichts gemacht hätt!“
„Aber musst du gleich mit dem Bulldozer das halbe Haus einreißen?“, fauchte die Männerstimme zurück. „Wenn du den Jungen nicht niedergeschlagen hättest, wäre überhaupt nichts passiert! Die sind bei uns eingebrochen!“
Wächter. Wer auch sonst? Er war der Wirt hier. Und Andis Freund.
„Und wieso sind die eingebrochen? Weil du dir von dem kleinen Verrecker den Haustürschlüssel hast klauen lassen – den Haustürschlüssel, du damischer Hammel!“
„Das war der Ersatzschlüssel, sonst hätte ich das doch beim Abschließen gemerkt.“
„Du Riesenrindvieh!“
„Du bist das Riesenrindvieh! Kannst du mir mal sagen, wie wir jetzt an Geld kommen sollen, wenn du die Geldquelle abgemurkst hast?“
„Die lebt schon noch. Außerdem...“
„Nichts außerdem! Dass du sie dermaßen verprügelt hast am Gletscher, damit ging’s doch schon los. Du solltest nur das Tagebuch holen, sonst nichts!“
Nelli, die im Begriff war, sich aus dem Küchentürspalt zurückzuziehen und endlich zu verschwinden, erstarrte.
„Das war nötig.“
„Wieso war das nötig, verdammt noch mal?“
„Weil sie den Andi umgebracht hat. Das verreckte Luder hat alles kaputt gemacht, was wir aufgebaut hatten.“
„Und dafür sollte sie ja auch bezahlen, aber nicht so. Kapierst du das denn nicht? So bezahlt sie nicht, weil sie nicht mehr bezahlen kann. Blöde, dumme, vernagelte Kuh.“
„Die wacht schon wieder auf. Dann lassen wir sie frei und das Geld holen.“
„Du spinnst ja! Die weiß doch jetzt alles.“
„Gar nix weiß die. Es war viel zu dunkel.“
„Was hast du überhaupt mit ihr gemacht? Gefesselt?“
„Nein.“
„Was dann?“
„Eingesperrt.“
„Unten bei der Kleinen?“
„Freilich.“
Nelli keuchte vor Schreck. Bei der Kleinen? DIE Kleine?
„Wir können die unmöglich freilassen. Die kommt postwendend mit der Polizei zurück.“
„Schmarren! Der ist das Geld egal, die riskiert nichts.“
„Und wenn doch?“
Nelli begann zu begreifen: Die hatten Monika! Das Stöhnen im Keller, das musste...
Nein, nein, nein. Sie wollte da nicht mehr hinunter. Besser Hilfe holen, jetzt,
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