In eisigen Kerkern (German Edition)
mal musste sie herausfinden, wo sie war. Wo ihre Füße überhaupt waren. Sie sah doch was, blind war sie ja nicht. Das war der Gletscher, kein Zweifel, und sie war darin. Und da waren auch: Andi, Monika und Rolf, außerdem Wächter und Gerda. Und ihre Füße lagen vor ihr in ihren nassen Radlerschuhen kalt wie Eiszapfen.
Hinter ihr war eine Wand aus Eis, an der sie mit aufrechtem Oberkörper lehnte. Der ganze Raum war aus Eis. Rechts neben sie auf den Eisboden hatte man Monika gesetzt, ebenfalls aufrecht und mit ausgestreckten Beinen. Links lag Rolf, daneben hockte Andi.
Stück für Stück setzte Nelli aus dem Durcheinander von Eindrücken die Wirklichkeit zusammen. Sie waren in einem kleinen Raum, einer Art Kammer im Eis. Vier Leute passten hockend und liegend gerade so nebeneinander. Zum Stehen war der Raum zu niedrig.
Über ihre Füße hinweg sah Nelli auf eine jenseits der Kammer arbeitende Gerda. Sie schlichtete und schichtete etwas, das aussah wie Eisbrocken. Sobald sie eine Reihe gestapelt hatte, goss sie aus einem leuchtend roten Eimer einen Schwall Wasser darüber.
Der Zugang zu der Eis-Kammer wurde beständig kleiner, war schon nur noch halb so groß wie ursprünglich.
Sie wurden eingemauert!
Zwei noch lebendige Frauen gefangen mit zwei Männerleichen in einer winzigen Eisgruft tief im Bauch des Gletschers. Es würde Jahrzehnte dauern, bis die Gletscherzunge sie freigäbe. Gerda erfüllte Andis letzten Willen.
Vor Entsetzen zappelte Nelli und trat um sich. Aber nichts bewegte sich, nicht mal ein Grunzen kam zustande. Sie sah ihre bewegungslosen Füße vor einer wachsenden Eismauer. Gerda schaute nicht mal zu ihr her.
Wo war Wächter? Nelli hatte doch die Lösung, sie musste bloß aufstehen, sich bemerkbar machen und ihre Botschaft loswerden. Verdammtes Gift. Verdammte Kälte.
So ging das nicht. Alles auf einmal bewegen und dazu sprechen war zuviel verlangt. Eines nach dem anderen. Sie konzentrierte sich auf ihre Füße.
Gerda war weggegangen, wahrscheinlich Wasser nachfüllen und Eisbrocken holen. Der Fluchtweg war frei, aber sie konnte mit ihren Füßen nicht mal winken, geschweige denn auf ihnen stehen und gehen.
Sie hörte Stimmen. Wächter und Gerda kamen zurück und schauten zu ihnen herein.
„Bist du sicher, dass das klappt?“, fragte er.
„Ich denk schon.“
„Und wenn sich doch mal jemand hierher verirrt?“
„Es kommt schon keiner her. Ich mach jetzt weiter.“
Wächter starrte Nelli an. Sie versuchte zu blinzeln, ihm ein Zeichen zu geben.
„Was, wenn ihr eine Lösung eingefallen ist und sie es uns nur nicht sagen kann?“
„Und was soll das sein?“
„Dass wir uns das ersparen. Ich will niemanden umbringen.“
„Die findet schon keiner.“
„Das mein ich doch gar nicht. Nicht nur. Es ist einfach falsch.“
„Aber wenn’s doch net anders geht!“
Nelli wollte schreien: „Geht doch anders! Ich hab die Lösung!“
„Wenn sich’s für uns wenigstens gelohnt hätte.“
„Da hast recht.“
„Ach, verdammt, dann mach eben dicht.“
„Mach ich sowieso.“
Gerda packte mit jeder Hand einen Eisbrocken aus dem Schubkarren, den sie hergeschoben hatte. Wächter hatte zwei Wassereimer daneben abgestellt.
„Also, ich muss dann los. Du meldest dich.“
„Freilich. Ach, weißt was...“
„Ja?“
„Könnt sein, dass der Andi noch Werkzeug in den Taschen hat.“
„Und?“
„Und?“, fragte Gerda und machte eine Kunstpause. Da kehrte sich Nellis Lösungsansatz plötzlich ins Gegenteil. Das Motorrad in der Scheune! Die war da gewesen bei ihrem Besuch im Dorf, hatte sie die ganze Zeit beobachtet – den kleinen Mann hatte sie nur geschickt, damit Nelli nicht herumschnüffeln konnte. Und was hatte die Herolder gesagt? Sie hatte Gerda dabei erwischt, wie sie die Erpresserbriefe in den Briefkasten des Verlages gesteckt hatte. Von Wächter war keine Rede gewesen. Gerda, die angeblich weder Auto noch Motorrad fahren konnte.
Mit aller Willensgewalt riss Nelli in Gedanken an ihrem linken Arm. Sie stellte sich vor, wie ihr Arm sich hob, wie ihre Hand unter ihre Jeans wanderte und den Schraubenzieher suchte. Sie stellte es sich so fest vor, dass es zu geschehen schien. Aber da war kein Schraubenzieher!
Nelli schaute an sich entlang. Ihre Hand steckte in ihrer Hose. Sie begann die Bewegung zu fühlen und direkt koordinieren zu können ohne den Umweg über die Visualisierung. Kein Schraubenzieher, nirgends! Damit war alles klar.
„Und?“, fragte Gerda noch mal.
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