In eisigen Kerkern (German Edition)
ja gesehen: Man wird ein paar Stunden träge und lustlos, und dann vergeht das auch schon wieder.“
„Ich will das nicht noch mal“, jammerte Monika und starrte auf die Spritze.
Wächter verlor die Geduld und schnaubte.
„Wollt ihr lieber gleich erschossen werden? Die Spritze verschafft uns allen etwas Zeit. Und der Kopf bleibt frei zum Nachdenken, das Mittel lähmt ja nur und betäubt nicht. Also bitte!“
„Das muss doch nicht sein“, sagte Nelli so ruhig und vernünftig wie möglich. „Sie haben die Waffe.“
„Die hatte ich vorhin auch schon. Was euch nicht abgehalten hat, einen Fluchtversuch zu wagen. Jetzt wird’s mir außerdem zu dumm. Muss es denn wirklich erst weh tun? Gerda, Spritze oder Messer.“
Gerda legte das Brillenetui auf den Tisch, zog aus einer Scheide, die sie am Gürtel trug, ein Messer hervor und richtete die Spitze auf Monikas Bauch, die Spritzennadel an ihre Schulter.
„Arm aufklappen!“
Monika war wie erstarrt, kauerte sich zusammen und reagierte nicht. Mit einem Ruck stach ihr Gerda die Nadel in den Schultermuskel und drückte die Spritze halb durch.
„Verdammte Faxen!“
Monika schrie auf, wollte aus ihrer knienden Haltung nach hinten wegtauchen, aber die Bewegung erlahmte, sie schien nicht mal mehr den Arm zur Abwehr heben zu können.
„Nelli, passen sie auf, dass sie nicht da runterfällt“, kam es von Wächter, und diesmal folgte Nelli, stand auf, nahm Monika an den Schultern und ließ sie vorsichtig zur Seite sinken.
„Ich will das nicht“, flüsterte Monika. „Bitte nicht.“
„Jetzt du“, verlangte Gerda. Nelli nickte und öffnete ihre linke Armbeuge. Die Nadel drang mit Wucht in die weiche Haut, es tat höllisch weh, und mit dem Schmerz kam ein Gefühl der Lähmung in den Körper, das sich in Sekundenschnelle ausbreitete, während der Kopf völlig klar blieb.
Die Panik, die damit einherging, war unbeschreiblich: Nelli wollte sich bewegen, wollte aufspringen, um diesem Ameisenkribbeln im ganzen Körper davonzurennen, aber es ging einfach nicht. Sie musste dabei zusehen, wie ihr Körper zusammensank und am Rand des Kellerloches liegen blieb.
Sie wollte fragen: „Wie soll ich denn Lösungsvorschläge machen, wenn ich gar nicht reden kann?“
Aber sie konnte ja eben nicht reden, um das zu sagen; nur eine Art Gurgeln konnte sie hervorbringen, ein Stöhnen und Blubbern tief in der Kehle.
„Okay“, kam es aus Wächters Richtung, „das war vielleicht ein bisschen viel.“
„Na und“, brummte Gerda von der anderen Seite her. „Besser als zu wenig.“
„Ich schaffe die beiden weg, und du holst Andi und den anderen aus dem Keller. Wir machen reinen Tisch.“
Nelli sah Gerdas Füße aus ihrem Blickfeld verschwinden.
Sie musste eine Lösung finden und sich mit dieser Lösung bemerkbar machen.
Ihr Blickfeld bewegte sich. Ein seltsames Gefühl war das, weil von ihrem gelähmten Körper keine Signale kamen, die eine Positionsveränderung anzeigten.
Wie bekam sie eigentlich Luft? Der Gedanke, kaum aufgetaucht, verdrängte alle anderen. Nelli spürte nicht, dass sie atmete, und obwohl sie auch nicht das Gefühl hatte, zu ersticken, ließ die Angst davor sich doch nicht mehr ausschalten.
Es war so kalt geworden. So weiß und eisig ringsum. Hatte man sie so schnell bewegt? Oder war ihr Bewusstsein, obwohl kontinuierlich vorhanden, seine eigenen Wege gegangen?
Wenn sie nur eine Orientierung gehabt hätte, irgendwas in ihrem Blickfeld, das sich mit Teilen ihres Körpers vereinbaren ließe. Ihr Bewusstsein war wie ein Nebeltröpfchen, und die Stimmen kamen von überall, mal Gerda hier, dann Wächter da, Wächter dort, Gerda ganz da drüben und drunten zugleich.
Aber dieser Zustand, in dem sie in sich und um sich und überall zugleich war, der hatte auch sein Gutes. Er brachte ihr eine Idee, wie doch noch alles gut werden könnte. Im Moment war es nicht gut, das begriff sie, obwohl sie nicht wusste, warum.
Die Idee hatte mit ihrer Wanderung hinunter ins Tal zu tun. In Gedanken folgte sie noch einmal ihrem Weg durchs Dorf und den Berg auf der anderen Seite wieder hoch. Der Mann mit Hut, eine Scheune, da stand etwas. Was sie gesehen hatte, das war die Lösung.
Wie das ging, diese Lösung in Worte zu fassen, wusste sie im Moment nicht. Auch mit dem Sinn der Lösung tat sie sich schwer. Es gab einen Sinn, dessen war sie sich sicher. Aber um ihn zu erkennen, musste sie sich sammeln, sich wieder der Schwerkraft aussetzen und zu Wort melden.
Aber zuerst
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