In eisigen Kerkern (German Edition)
matschigen Waldweg zur Straße. Inzwischen hatte es zu nieseln begonnen.
„Shit!“
Nelli fummelte am Reißverschluss des Kragens ihrer Allwetterjacke. Das Ding hakte, und es blieb ihr nichts anderes übrig als die Jacke auszuziehen, um die Kapuze freizulegen. Hinter sich hörte sie Monikas tapsende Schritte. Ein Auto raste über die Kuppe heran, versetzte Nelli im Vorbeibrausen einen feuchtkalten Fahrtwindstoß, dass es ihr die Jacke wegblähte, und war schon wieder bergab verschwunden.
Eine Schnapsidee war das gewesen, am Wandererparkplatz direkt unterhalb des Waldstein-Gipfels zu campieren. Hier oben war es deutlich kälter als unten im Tal. Und dann dieser dauernde Sturm: Die halbe Nacht war sie wachgelegen, hatte dem heulenden Wind zugehört, dem Ächzen der Fichten, dem Zischen und Pfeifen der Böen im Geäst. Nelli freute sich sehnsüchtig auf eine heiße Dusche, frische Klamotten und ihr weiches Bett im geheizten Schlafzimmer zu Hause.
Sie gähnte und nieste gleichzeitig, zog den Reißverschluss zu und band sich die Kapuze fest. Durch das runde enge Guckloch sah sie Monika ihr Fahrrad auf die Straße schieben. Statt einer Kapuze trug sie eine Baseballkappe wie eine Haube über ihren zusammengestopften Haaren.
„He, nach rechts!“, rief Nelli ihr zu, aber ihre Stieftochter schob ihr Fahrrad ungerührt über die Straße und trat nach links an.
„Monika! Verflixt noch mal, das ist ein Umweg!“
Nelli beeilte sich, vor dem nächsten Auto über die Straße zu kommen und Monika einzuholen. Die trat mit voller Kraft bergab und hatte inzwischen ein Tempo erreicht, das Nelli resignieren ließ. Also dann eben noch den Bogen über Weißenstadt...
Eigentlich hätte ich gewarnt sein müssen, dachte Nelli. Und zwar seit jener Nacht, in der sie durch ein Geräusch aufgewacht war, ein langgezogenes Schniefen. Sie schreckte hoch, sah einen Schemen neben ihrem Bett stehen, einen gebeugten, sie belauernden Schatten, und dachte sofort an Andi. Nicht, dass sie auch nur einen Moment der alten Angst verfallen wäre, er könne es selbst sein, auferstanden von den Toten, nein - sie dachte an ihn als jemanden, den es nicht mehr gab und zugleich: Wer da steht, der ist wie Andi.
Es war Monika. Wer auch sonst?
Und natürlich war die nicht wie Andi. Sie war ein verspätetes Opfer dieses irrsinnigen Massenmörders, unter anderem, und deshalb stand sie auch da.
„Ich kann nicht schlafen“, flüsterte sie, als Nelli sich aufrichtete, sie mit großen Eulenaugen anstarrte und schließlich das flaue Nachttischlämpchen anknipste.
„Willst du dich zu mir legen?“, fragte Nelli und hoffte, sie möge nein sagen. Sie sah, wie Monika ihr die Hoffnung, sie möge nein sagen, ansah, ihr diese Hoffnung übel nahm, mehr verübelte in diesem Moment als ihre siebenjährige Abwesenheit, und den Kopf schüttelte.
„Ich geh wieder zu mir.“
„Soll ich...“
„Nein, es geht schon.“
„Okay.“
Sollte sie irgendwas fragen? Nach ihren Alpträumen - ob sie von Gerda handelten, von den Stunden in Andis Schreckenskeller, den brutal schmerzhaften Injektionen, der Beinahe-Einmauerung im Gletscher zusammen mit zwei Leichen...
Monika drehte sich zur Seite und schlich auf ihren nackten Füßen zur Tür. Ein Zipfel ihrer Zudecke, die sie sich um die Schultern geschlungen hatte, schleifte hinter ihr her wie eine erlegte Beute. Sie öffnete Nellis Tür, ging hinaus und ließ die Tür hinter sich offenstehen. Irgendwann hörte Nelli Monikas Zimmertür aufgehen und leise zufallen. Erst jetzt sprang sie aus dem Bett, um ihre Tür zu schließen. Und begriff: Es hätte umgekehrt gewesen sein müssen, um halbwegs normal zu scheinen. Gesetzt den Fall, ihre 19jährige Stieftochter war so verstört und aufgewühlt, dass sie an Nellis Bett gekommen wäre, um Trost zu suchen, sie hätte die Tür beim Hereinkommen offengelassen – und beim Verlassen des Raumes geschlossen. So aber: Sie war hereingeschlichen, hatte die Tür hinter sich geschlossen, sich heimlich an Nellis Bett gestellt, war wer weiß wie lange da gestanden und hatte die Schlafende angestarrt mit wer weiß welchen Gedanken im Kopf...
Tür auf, Tür zu. Spitzfindigkeiten.
Oder?
Was hatte sie gewollt?
Und was wollte sie jetzt? Was trieb sie, im eisigen Nieselregen den Berg hinabzurasen als sei sie vor Nelli auf der Flucht, auf Rufe nicht zu reagieren, sich nicht mal umzudrehen?
Die große Versöhnung, die wundersame Harmonie, vielleicht war das alles nur Wunschdenken gewesen.
Weitere Kostenlose Bücher