In eisigen Kerkern (German Edition)
trat ihr mit aller Kraft ans Schienbein. Die Herolder verriss die Waffe, drückte ab, es klickte.
„Jetzt bist du fällig“, knurrte Nelli. Sie nahm alle verbliebene Kraft zusammen für eine entschlossene Stimme, einen möglichst bösartigen Blick, eine schnelle, gnadenlose Bewegung.
Und dann verselbständigte sich ihre Entschlossenheit. Sie begann zu schreien, ohne es zu wollen oder auch nur zu merken. Der Schrei kam wie von selbst aus ihr heraus, ein Urschrei des Angriffs, aber auch ein Schrei, in dem sich alles Bahn brach, was sich in ihr aufgestaut hatte. Nelli spürte, dass ihr Entschluss, anzugreifen, um jeden Preis zu kämpfen und zu siegen, ihre letzten Reserven mobilisiert hatte. Mit gebleckten Zähnen und gekrümmten Klauen ging sie schreiend auf die Gegnerin los.
Fiona Herolder, die ihren Schock über die leere Waffe überwunden hatte und nun selbst angreifen wollte, zögerte angesichts der Urgewalt von Nellis Schrei und der Raubtierhaftigkeit ihrer Angriffsfratze, sie wurde unsicher und begann zu begreifen, dass sie dieser Furie vor sich nicht gewachsen war.
Sie sprang vor Nelli zurück, wollte losrennen, rutschte auf dem glatten Gletscherboden aus, schlug der Länge nach hin, sprang sofort wieder auf und rannte in Monikas Richtung und an ihr vorbei davon. Man hörte noch für ein paar Sekunden ihr Keuchen, dann war sie verschwunden.
„Jetzt wissen wir, wo es rausgeht“, krächzte Nelli, heißer vom Schreien. Sie half Monika beim Aufstehen, und, aneinander hängend, taumelten sie in die Richtung, in der die Herolder weggerannt war.
Die Reporterin kam davon. Und nicht nur das: Sie machte ungeniert mit der Serie über Nellis Reise weiter, baute die neuen Ereignisse ein als habe sie diese Fakten recherchiert und mit etwas Fantasie ausgeschmückt. Aber es war nichts davon Fantasie, alles war Erinnerung. Sie schrieb sich reich damit.
Natürlich sagten Nelli und Monika gegen sie aus und zeigten sie an, als die bloße Aussage nichts erwirkte.
Vergeblich, denn Beweise für ihre Anwesenheit am Tatort wurden nicht gefunden, und die Herolder konnte gleich zwei Zeugen vorweisen, die ihr ein Alibi für jene Nacht gaben: ihren Chefredakteur und den stellvertretenden Verlagsleiter. Die allwöchentliche Redaktionsschluss-Sitzung habe sich im engen Dreierkreis durch die ganze Nacht bis in den Morgen hingezogen. Das Lügen-Trio schlachtete Nellis Tagebuch aus, verdoppelte die Auflage des Klatschblattes Von Frau zu Frau damit und konnte auch noch frech behaupten, alles sei recherchiert beziehungsweise aus früheren Interviews mit Frau Prenz zusammengetragen.
Nelli hatte keinen Gegenbeweis. Sie fragte sich, ob die beiden hohen Herrn nicht von Anfang an eingeweiht gewesen waren und gar mit geplant hatten, was angeblich völlig ungeplant vor sich gegangen war.
Aber letztlich war es Nelli egal. Sie hatte etwas viel Besseres gefunden als die sprudelnde Geldquelle, von der aus ein Rinnsal vertragsgemäß immerhin auch auf ihr Konto strömte. Nelli war angekommen, sie hatte in ihrem alten Zuhause ein neues Zuhause gefunden.
„Weißt du eigentlich noch, wie wir da rausgefunden haben?“, fragte Monika eines Tages im Herbst. Der erste Frost hatte sich in der Nacht übers Land gelegt und ließ am nächsten Morgen die Blätter fallen. Nelli saß am Fenster der Panorama-Scheibe im Wohnzimmer neben der Heizung, schaute hinaus in den Novembergarten und kaute an ihrem Bleistift.
„Was meinst du?“
In Wollsocken, Jogginghose und Norweger-Pullover stand Monika vor ihr und kratzte sich mit steil angewinkeltem Arm am Nacken. Die Haare hatte sie zurückgebunden.
„Ich meine, ist das eine Erinnerung für dich wie jede andere oder kommt es dir irgendwie irreal vor, von Gedächtnislücken unterbrochen und zugleich überklar?“
„Ich erinnere mich an alles. Absolut alles.“
„Der Moment, als uns dieser Autofahrer am Pass auflas, ich weiß zwar, dass es passiert ist, aber es kommt mir vor, als hättest du es mir hinterher erzählt. Dabei hab ich aber die Gerüche ständig in der Nase, den Gestank von diesem toten Andi oder wie es in dem Keller so modrig-feucht war. Und den Neuwagengeruch nach der Rettung kann ich überhaupt nicht vergessen, weil mir übel davon geworden ist, aber ich weiß nicht mehr, wie der Mann ausgesehen hat.“
„Bei mir ist es das Licht. Ich hab diesen Weg ja schon einmal in einem solchen Zustand zurückgelegt. Beim ersten Mal hatte ich das Gefühl, irgendwie aus dem Leben gekippt und neu
Weitere Kostenlose Bücher