In eisigen Kerkern (German Edition)
wir...“
Nelli platzte der Kragen, sie machte eine abgehackte Bewegung mit der Hand und fauchte: „Schluss jetzt!“
Monika schaute sie erschrocken an. Nelli bereute sofort ihre Lautstärke und Heftigkeit, sie beugte sich vor, strich ihr kurz über die Wange und schüttelte den Kopf.
„Tut mir leid. Aber du kannst dein Leben nicht auf Erpressung aufbauen.“
„Warten auf bessere Zeiten ist auch keine Grundlage.“
Monika drehte sich um und rollte sich in ihren Schlafsack.
Nelli hatte keine, absolut keine Antwort. Aber sie spürte ein Bedürfnis, das ihr sieben Jahre lang über ihre Ratlosigkeit hinweggeholfen hatte. Die altbekannte Pseudo-Lösung, die sie um die Welt gejagt hatte: Wenn es keine Antwort gibt, dann fahre einfach weiter. Irgendwo kommst du schon raus. Und wenn gar nichts mehr geht, dann kehrst du eben um und fährst heim.
Nur war ihr diese Perspektive jetzt genommen. Es gab kein Daheim mehr, nichts mehr zu entschuldigen und zu klären. Es gab nur noch die Straße. Und ihrem größten Problem konnte sie nicht mal mehr davonfahren, es war zu ihrem ständigen Begleiter geworden. Nelli hockte noch auf ihrer Iso-Matte. Sie starrte auf die Raupenform ihrer Stieftochter im dicken Mumienschlafsack, bis sie fror und ihr der Rücken wehtat.
Das nächste, was sie noch wusste, als sie am nächsten Tag auf die dumpfhelle, vom prasselnden Regen bewegte Zeltbahn schaute, war eine Störung in der Nacht. Monika hatte das Zelt verlassen, vermutlich um zu pinkeln.
Nelli drehte sich zu ihr um. Keine Monika. War das eben erst gewesen? Oder hatte sie schon wieder gemusst? Aber wo war ihr Schlafsack?
Kein Schlafsack, keine Unterlage, keine Packtaschen!
Auf der leeren, freien Zeltbodenfläche lag ein Zettel.
Nelli streckte ihre Arme aus dem molligen Schlafsack hinaus in die feuchte Kälte und griff sich das Stück Papier. Es war zwei mal gefaltet. In Monikas zittriger, schräger Kleinmädchenschrift stand darauf:
„In genau einer Woche wieder hier.“
Nelli riss das Zelt in Minutenschnelle nieder, quetschte alles so in die Packtaschen zusammen, dass es gerade noch hineinpasste, und strampelte schon zehn Minuten nach dem Aufwachen durch die verwaiste, regenfeuchte Hauptstraße von Weißenstadt.
Es hatte überhaupt keinen Sinn, nach Monika zu suchen. Sie wollte nicht gefunden werden, also war es egal, ob sie ihren Aufbruch um Stunden oder Minuten verpasst hatte. Sie wusste ja, wo sie hinwollte.
Für 20 Euro durfte Nelli ihr Fahrrad im Lagerraum einer Bäckerei unterstellen. Was sie brauchte, Ausweis, Geldbeutel, Essensvorrat, hatte sie schon beim Packen in die Taschen ihrer Regenjacke gestopft. Sie deckte sich beim Bäcker mit einer Tüte altem Gebäck ein, stapfte mit hochgezogenen Schultern die paar Meter hinüber zum Marktplatz und wartete dort auf den Bus nach Bayreuth.
Die Herolder stand im Telefonbuch, sogar mit vollem Namen und Adresse. Nelli hatte nicht damit gerechnet, sondern sich auf zermürbendes Herumtelefonieren und Lügenmüssen eingerichtet.
Andererseits hatte es Monika mit dem Telefonbucheintrag genauso leicht gehabt, sie ausfindig zu machen. Vielleicht war sie nur kurz vor Nelli am Münchner Hauptbahnhof eingetroffen, in den Bus gewechselt, bis zur Endhaltestelle der Linie einen Steinwurf weit vom Domizil der Herolder gefahren und dort ausgestiegen.
Nelli staunte darüber, wie identisch die noblen Villengegenden in sämtlichen Städten der Welt waren. Als würde sich Geld immer das selbe Umfeld schaffen, egal in welchen Händen es zirkulierte.
Als sie vor der zwei Meter hohen, nahezu blickdichten Hecke des Anwesens ankam, sich zwischen den steinernen Portalen an das schwarze Schmiedeeisen des Tores klammerte und die geschwungene, von niedrigen Fichten gesäumte Auffahrt entlang blickte, konnte Nelli nicht verhindern, dass ihr ein Stich von Wut und Neid durch den Körper jagte. Mit dem Geld, um das sie Nelli betrogen hatte, mit Raub, Betrug und Beihilfe zum Mord hatte die Herolder sich diese Residenz geschaffen. Monika hatte völlig recht.
Und trotzdem musste verhindert werden, was sich da möglicherweise anbahnte oder schon angebahnt hatte.
Nur wie? Auf welchem Weg in diese Festung eindringen? Einfach klingeln? Warum eigentlich nicht?
Nelli hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da hatte ihr Finger schon auf den kleinen schwarzen Knopf am Portal gedrückt. Von schräg über ihr war eine Kamera auf sie gerichtet. Der kleine Lautsprecher unter der Klingel blieb stumm. Es
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