In eisigen Kerkern (German Edition)
abrupte Wendung. Noch immer konnte sie kaum glauben, ihr Fahrrad zu sehen. Da stand es im Schatten eines der Bergriesen. Nelli fröstelte beim Anblick der Schneefelder. Sie zog ein Sweatshirt aus einer ihrer Taschen, streifte es über, klappte den Ständer hoch und schwang sich auf den Sattel.
Wie hatte sie diesen Moment herbeigesehnt!
Sie ließ die Räder rollen. Weg hier, nichts wie weg.
Das Haus verschwand hinter der ersten Kurve, und vor Nelli tat sich die Serpentinenstraße auf: links Felswand, rechts Steilabsturz. Hier durfte sie sich keinen Fehler erlauben.
In die Erleichterung mischte sich ein leichtes Gruseln beim Gedanken an ihren Unfall. Sie hatte aufgehört gehabt darüber nachzudenken, was den Sturz überhaupt verursacht haben könnte. Irgendwas war da gewesen. Auf einer gut ausgebauten Teerstraße ohne Buckel und Schlaglöcher konnte es den Lenker doch nicht einfach so verreißen!
Vielleicht Altersschwäche. 15 Jahre hatte ihr Drahtesel mindestens auf dem Buckel – und über 80.000 Kilometer. Nelli beschloss, während sie Höhenmeter um Höhenmeter hinter sich ließ und ihr der kalte Wind um die Ohren pfiff, im Tal vorsichtshalber eine Werkstatt aufzusuchen und Lenkung und Bremsen von einem Fachmann checken zu lassen.
Was für ein Gefühl, Entscheidungen fällen zu können und von niemandem gehindert zu werden, sie auch auszuführen.
Nelli drängte es, ihre Gedanken dazu aufzuschreiben. Bei aller Angst und allem Ärger, das war wirklich eine verdammt wichtige Erfahrung gewesen. Vielleicht war es eben doch ein Fehler, nach all den Jahren nach Hause zu fahren und die alten Wunden aufzureißen.
Auf der Serpentinenstrecke oberhalb der Baumgrenze war Nelli nur ein Auto entgegengekommen, ein alter VW Polo, am Steuer ein rotgesichtiger Mittfünfziger mit Cordhut. Nelli registrierte ihn kaum, weil sie bitterlich fror und darüber nachdachte, kurz anzuhalten und lange Hosen, einen zweiten Pullover und Handschuhe anzuziehen.
Sie entschied sich dagegen, denn sie wollte weg, weit weg von der Passhöhe und Andis Einflussbereich. Weit weg von dieser Welt aus Steinen und Eis.
Sie hielt erst an, als sich ihr unterhalb der Baumgrenze ein Talblick auftat, den sie sich nicht entgehen lassen wollte. Die Sonne saß eine Handbreit über der Zackenlinie der Berge und schickte lange, weiche Strahlen auf ein Postkartenidyll von Dorf mit kleinem Kirchlein und geduckten Häusern mit blumenverzierten Balkonen, gewunden bergan führenden Wegen und immer mal einem verstreuten Bergbauernhäuschen.
Nelli überlegte, ob sie in dem Dorf übernachten oder noch ein Stück weiterfahren und irgendwo unterwegs campen sollte, als sie hinter sich ein Auto herankommen hörte und Sekunden später durch mehrmaliges Hupen aufgeschreckt wurde.
Sie zuckte herum und erkannte den alten VW Polo, den Mann mit Cordhut und auf dem Beifahrersitz die klobige Figur von Gerda. Der Mann am Steuer wehrte ihren Versuch ab, noch einmal auf die Hupe zu drücken. Statt dessen drohte Gerda mit der Faust und schrie irgendwas, das selbst das Motor- und Fahrgeräusch des Autos überdröhnte. Nelli meine „...ausgschamte Person, ausgschamte...“ herauszuhören, und sie bekam eine Gänsehaut. Wenn die da unten im Dorf wohnte und Andi womöglich auch, dann würde Nelli einen großen Bogen darum machen.
Oder am besten gleich an Ort und Stelle übernachten. Eigentlich war der Platz über dem Dorf ideal. Sogar ein Bach zum Waschen und Wasserschöpfen plätscherte durch die Wiese. Hier konnte sie, ein wenig versteckt von der Straße, hinter einer Baumgruppe ihr Zelt aufschlagen - und am nächsten Morgen das Dorf durchqueren, wenn Gerda und Andi längst wieder oben am Pass sein würden.
Nelli sah dem kleinen dunklen Auto nach, wie es auf die Häuser zufuhr, und entschied sich. Sie stieg ab, schob ihr Fahrrad von der Straße über die Wiese in Richtung von Baumgruppe und Bach und suchte sich eine Stelle, von der aus weder Dorf noch Straße zu sehen waren.
Am liebsten hätte sie sich in die Wiese gesetzt und sofort zu schreiben angefangen. Aber nicht mit knurrendem Magen. Und nicht mit den allabendlichen Aufgaben noch vor sich. Also, erst Zelt aufschlagen, dann Feuer machen, waschen, essen und dabei schreiben.
Nelli liebte diese Feierabend-Rituale. Egal an welchem Platz der Welt, der Ablauf hatte ihr überall ein Gefühl von Sicherheit und Heimat gegeben, und das brauchte sie an diesem Abend mehr denn je.
Sie lud ihre Taschen ab, legte das Fahrrad ins
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