In eisigen Kerkern (German Edition)
nie jemandem erzählt, dachte Nelli, es brennt ihm auf der Seele.
„Ich brauchte das Geld wirklich ganz dringend, ich stand vor dem Aus. Aber ich konnte ja den Toten nicht ausgeraubt liegen lassen. Irgendwann hätte ihn jemand anders gefunden, es hätte Untersuchungen gegeben, bei mir hätten sie natürlich aufgrund der Nähe zum Fundort angefangen, und ich kann einfach nicht lügen, weißt du.“
Aber du tust es ununterbrochen, dachte Nelli. Der hielt sich doch tatsächlich für einen guten Menschen in Not, der Anteilnahme verdiente, unglaublich.
„Der Gletscher fiel mir ein. Jetzt kommt Punkt 3, wir stehen kurz vor der bahnbrechenden Idee.“
Er lächelte mild.
„Ahnst du schon, worauf es hinausläuft, Nelli?“
Sie schüttelte den Kopf und versuchte, sehr neugierig zu wirken, obwohl ihr schauderte.
„Was Vitriol bewirkt, schafft Kälte noch viel besser. In dem Moment ging es natürlich nur darum, die Leiche loszuwerden, und da ich hier oben aufgewachsen bin, kenne ich nicht nur die Gletscherzunge, sondern auch die Nährzone und jeden Bereich dazwischen. Ich kenne Spalten, die sind über 100 Meter tief, aber wenn man bedenkt, dass die gesamte Eismasse bis zu 400 Meter dick und fast 15 Kilometer lang ist, selbst jetzt noch trotz der Gletscherschmelze, dann ist das eigentlich gar nichts. Damals reichte mir eine dieser Spalten, aber für mein Werk, wie du es heute kennenlernen wirst, fehlte immer noch ein kleines, aber das entscheidende Bausteinchen.“
„Und welches ist das?“
Er deutete feierlich an ihr vorbei zur Wand hinter dem Schreibtisch. Sie wusste, dort hing der gerahmte Zeitschriften-Artikel mit dem alten Schwarzweiß-Foto. Den Titel konnte sie sogar entziffern: „Grausige Himmelfahrt“ – auf dem Foto kniete ein Mann vor einem Geschütz, das in einer Art Eishöhle aufgebaut war.
„Na los, Nelli, schau dir den Text und das Foto selbst an. Es geht um den Ersten Weltkrieg und die Kampfhandlungen hier in den Bergen. Vielleicht kommst du auf die selbe Idee wie ich damals.“
Nelli drehte sich zaghaft halb zur Seite und schielte zur Wand.
„Keine Angst, ich fall dir schon nicht in den Rücken.“
Sie sah ihn auf den Artikel fixiert, wieder bei Kräften, aber ganz abgelenkt. Ihre Wunde hatte aufgehört zu bluten.
Jetzt oder nie!
Mit einem Satz nach vorn schnappte sie sich die Karte. Ihr Kreislauf rebellierte mit einem kurzen Sausen in den Ohren, blieb aber stabil.
Andis enthusiastisches Gesicht erstarrte.
„Das nehm ich dir übel, Nelli. Verdammt übel sogar!“
„Mir egal.“
Sie hielt die Karte in Zerreißhaltung und bewegte sich in kleinen Schritten auf ihn zu. Um am Schreibtisch vorbeizukommen, musste sie sich ihm fast auf Griffweite nähern. Sie senkte die Hände mit der Karte an ihre Beine und drückte sich, Oberkörper nach hinten von ihm weg gebeugt, an der Kante vorbei. Andis Augen wanderten zwischen ihrem Gesicht und der Karte hin und her.
Nelli erreichte ihr Tagebuch. Das war nun der riskanteste Teil. Sie konnte nicht einschätzen, wie schwer seine Hüfte verletzt war. Konnte er inzwischen wieder laufen? Egal, sie musste es riskieren. Sie nahm die rechte Hand von der Karte, schnappte damit das Tagebuch und steckte es sich hinten in den Hosenbund. Andi bewegte sich nicht.
„Wo sind meine Satteltaschen?“
Statt wieder Zerreißhaltung einzunehmen, holte sich Nelli den Kerzenständer und brachte das alte Schriftstück in die Nähe einer der Flammen. Andi spitzte die Lippen und riss die Augen auf, als er das Feuer so nah an seinem Heiligtum sah.
„Im untersten Schreibtischfach ganz rechts.“
Nelli stellte die Kerzen ab, beugte sich nach rechts, ohne ihn über den Schreibtisch hinweg aus den Augen zu lassen, und tastete nach dem Rollschub für die Aktenkoffer. Sie zog ihn auf, spürte ihre Tasche, wollte sie am Griff nehmen und herausziehen. Es ging nicht, die Tasche hing fest.
Nelli machte ihren entscheidenden Fehler.
Sie hätte Andi auffordern können, ihre Tasche herauszuholen. Sie hätte ihn außer Gefecht setzen können, indem sie ihn gezwungen hätte, sich bäuchlings auf den Boden zu legen, Gesicht zur anderen Wand. Sie hätte vielleicht auch blind tastend zum Ziel kommen können.
All das fiel ihr erst ein, als es schon zu spät war.
Sie hatte, als alles Rucken und Zerren an der Tasche nichts half, für einen Sekundenbruchteil ihrem Reflex nachgegeben, den Blick zu senken und nachzuschauen, wie und wo sich ihre Tasche verhakt haben könnte.
Sie sah nichts.
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