In eisigen Kerkern (German Edition)
lieber nicht vergessen sollte. Andi schaute zwischen ihr und der Karte vor ihren Füßen hin und her. Er schien darauf zu warten, dass sie endlich zusammensackte.
Aber Nelli fing sich. Durch kontrolliertes Atmen verdrängte sie die Kreislaufschwäche.
„Patt“, sagte sie und schaute ihn an.
„Von wegen. Du kommst hier nicht raus, egal, was du anstellst.“
Er versuchte, auf beiden Beinen zu stehen, was ihm leicht schwankend gelang.
„Du denkst vielleicht, die Zeit arbeitet für dich, Nelli, aber es ist genau umgekehrt.“
„Was ist Punkt 2?“
„Punkt 2?“
„Die drei Einzelideen, die dich zu deinem Projekt geführt haben. Was war die zweite?“
„Hast du denn die erste richtig begriffen?“
„Sicher.“
Sie versuchte sich aufzurichten. Vielleicht konnte sie die Karte mit dem Fuß erreichen.
„Na los, worum ging es in der Geschichte? Das ist wichtig, Nelli, die zentrale Idee meines Projektes überhaupt.“
„Die Geschichte von diesem ... Hebel, meinst du?“
„Von diesem Hebel, genau. Du hast keine Ahnung, oder?“
Nelli erinnerte sich dunkel an eine Kurzgeschichte, die sie in der Schule analysiert hatten.
„Es ging um eine alte Frau.“
„Das stimmt sogar. Und weiter?“
„Ihr Bräutigam wurde verschüttet, kurz vor ihrer Hochzeit.“
„In einem Bergwerk, richtig.“
„Und als sie ihn finden, ist er noch ganz jung und unversehrt.“
„Weißt du noch, wodurch die Leiche konserviert wurde?“
Nelli spürte ihre Kräfte zurückkehren. Seltsam, ihr Wachbewusstsein hatte die Geschichte vergessen gehabt. Die Erinnerung war aus den Tiefen ihrer einsetzenden Ohnmacht emporgestiegen.
Andi winkte gönnerhaft ab.
„Vitriol, ist auch egal. Es geht um dieses Wiedersehen – sie uralt und runzlig, er noch jung und strahlend wie am Verlobungstag.“
Ja, aber seit Jahrzehnten tot, hätte Nelli gern geantwortet. Sie ließ es, denn Andi zeigte eine seltsame Begeisterung, die ihn milder stimmte und ablenkte. Sie hatte wieder Optionen: die Karte zurückholen, über den Schreibtisch hechten um Tagebuch und Kerzen zu erobern, auf jeden Fall aber Zeit schinden.
„Diese Geschichte hat mich jahrelang beschäftigt. Ich wusste, sie würde noch eine Bedeutung für mich haben. Das war Ideenkeim Nummer eins.“
Er versuchte aufzutreten und den Stuhl loszulassen, verzog das Gesicht, verlagerte das Gewicht zurück auf die unversehrte Seite und stützte sich wieder auf die Lehne. Erleichtert erkannte Nelli, dass ihn das nicht wütend machte oder verzagen ließ, sondern dass er in seinen Erinnerungen gefangen blieb und seine Einsatzfähigkeit eher so nebenbei testete.
„Der zweite Baustein zu meinem Projekt hat leider keinen so romantischen oder erfreulichen Hintergrund.“
Sein Gesicht wurde missmutig.
„Das mit dem Tunnel hast du ja mitbekommen.“
Nelli nickte.
„Eine Katastrophe für mein Geschäft. Wenn der Liftbetrieb im Winter nicht wäre, hätte ich längst dicht machen müssen. Was jetzt kommt, lässt mich nicht so gut aussehen, Nelli, aber du musst bedenken, dass ich seit dem Tunnelbau am Existenzminimum lebe. Ich verzichte nicht auf Strom, Heizung und fließend Wasser, weil ich ein Ökofreak wäre.“
„Hab ich mir schon gedacht.“
„Jedenfalls fand ich eines Tages bei einer Wanderung eine Leiche ganz in der Nähe von hier. Ich wusste sofort, wer das war.“
„Wer denn?“
„Ein Freikletterer. War sogar bei mir eingekehrt. Ich hatte in der Zeitung gelesen, dass er vermisst wurde. Aber sie suchten ihn ganz woanders, weil er sein Auto drei Täler weiter abgestellt hatte und seine Klettertouren abwanderte. Ich erinnerte mich an sein fettes Trinkgeld. War irgend so ein reicher Student, von Beruf Sohn, du weißt schon.“
Er machte ein angewidertes Gesicht und testete sein Bein.
„Ich fand über 2.000 Mark in seinem Rucksack. Ich sag dir, der Kerl war vielleicht ausgerüstet. Bloß nützt das alles nichts, wenn man ansonsten nichts drauf hat.“
Nelli schielte auf die Karte. Sie lag ein bisschen näher bei ihr als bei Andi, und ihm war außerdem der Stuhl im Weg.
„Willst du die Geschichte nun hören oder nicht?“, schnauzte er sie an.
Nelli zuckte ertappt zusammen. Aber er schien an die Karte gar nicht zu denken, sondern hatte ihren Blick nach unten als mangelnde Aufmerksamkeit gedeutet.
„Wenn ich dich langweile...“
„Nein, im Gegenteil. Wie ging es weiter?“
Er schaute sie streng an, zögerte, nickte dann und versank wieder in seiner Erinnerung. Der hat das noch
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