In eisigen Kerkern (German Edition)
alles zu erfassen. Ein Wort aber erkannte sie, es stand in einer Kammer am hintersten Ende des Stollensystems. Sie las ihren eigenen Namen: NELLI P. – und darunter einen Vermerk.
Andi war schon durch die „Privat“-Tür aus dem Lagerraum in den wohlbekannten Eingangsbereich des Unterkunftshauses getreten, schloss von außen ab und wandte sich dem Ausgang zu. Eiskalte Nachtluft wehte herein. Mit Verspätung begriff Nelli den Zusatz in der mit ihrem Namen gekennzeichneten Kammer.
Das eine waren sechs von zwei Punkten unterbrochene Zahlen gewesen - das morgige... nein, es war ja schon nach Mitternacht, das heutige Datum. Und dazwischen, unter dem Namen NELLI P. und über dem Datum stand:
„Lebendkonserviert am...“
Fortsetzung folgt.
Leseprobe Teil 3:
„Einer wie du hat bestimmt nicht das Recht, mich zu verurteilen. Wie viele Leute hast du ausgeraubt und umgebracht?“
„Wirst du gleich selber sehen, Nelli. Aber mit verurteilen hat das nichts zu tun, ich recherchiere.“
„Ich hab dir ehrlich geantwortet. Erfüllst du jetzt dein Versprechen?“
„Ich hab dir keines gegeben.“
„Dann gib es mir jetzt!“
Andi wiegte den Kopf.
„Ich soll Deiner Tochter also das Tagebuch schicken?“
„Ja. Gib mir dein Wort drauf.“
„Damit sie versteht, warum du sie im Stich gelassen hast, und dir verzeiht?“
„Sie soll einfach nur die Möglichkeit haben, es zu lesen. Wie sie dann reagiert... – ich weiß es nicht.“
„Also eines verstehe ich dabei nicht, Nelli: Wenn es dir so wichtig ist, dass deine Tochter dein Tagebuch liest, warum hast du es ihr dann nicht längst geschickt?“
„Ich wollte es ihr eigentlich persönlich übergeben oder am besten ihr in einem Gespräch alles erklären. Aber das geht ja nun nicht mehr.“
Andi Gesicht erstrahlte. Im Gegenlicht des Schimmerns der weißen Wand vor ihnen sah Nelli die Fältchen um die Augen so deutlich wie aufgemalt.
„Das wollte ich hören, Nelli. Der Moment der Übergabe wäre Abschluss und Höhepunkt der Reise gewesen, stimmt’s, und zugleich der Moment der Entscheidung. Wie hätte sie wohl reagiert?“
„Keine Ahnung.“
Andi nickte aufmunternd.
„Wir werden sehen.“
Es klang, als sei eine Entscheidung gefallen und als sei diese Entscheidung höchst positiv. Nelli schöpfte wieder Hoffnung.
„Heißt das, du lässt mich gehen?“
Er neigte bedauernd den Kopf, sein Lächeln erlosch, und er wirkte enttäuscht über ihre Frage.
„Nein, das natürlich nicht.“
„Aber du schickst es ihr oder lässt mich einen Brief schreiben?“
Andis Lächeln kehrte zurück.
„Viel besser, Nelli, sehr viel besser!“
Abrupt drehte er sich zur Fahrertür, zog den Riegel und stieß sie auf.
„He!“
Nelli versuchte, den Kopf aus dem Rückfensterchen zu ziehen, aber blieb mit dem Kinn hängen.
„Was soll denn das heißen?“, rief sie ihm hinterher, aber er war schon aus ihrem Blickfeld verschwunden. Nelli gelang es, den Kopf aus dem Fenster zu ziehen.
„Andi!“
Es klickte metallisch, quietschte, und die Ladeklappe neben ihr ging auf. Andis Kopf erschien. Nelli geriet aus dem Gleichgewicht und fiel ihm entgegen. Er fing sie mit einer schnellen Bewegung auf und zog sie von der Ladefläche.
„Andi, was... hast... du vor?“
Wie eine Puppe stellte er sie vor sich auf, schaute sie an, strahlte immer noch.
„Kannst du dir das denn nicht denken, Nelli? Hast du nicht die gleiche Vision?“
„Nein, zum Teufel!“
Er schlug mit der linken Hand die Fahrertür zu, zerrte Nelli einen halben Meter nach links, lehnte sie an ans Führerhaus und bekam damit die Hände frei für eine große Geste.
„Der Moment des Verzeihens“, fabulierte er mit ausgebreiteten Armen, machte eine kreisende Bewegung mit den Händen und räusperte sich. Er brummte wie ein Opernsänger vor dem großen Auftritt, versuchte seiner Stimme einen tiefen, gewichtigen Klang zu geben.
„Mutter und Tochter, im Tod wieder vereint“, sang er.
„Was!“, schrie Nelli. In ihrem Schock brachte sie erstmals wieder einen Ton hervor, krächzend und abgehackt, aber laut vernehmbar.
„Das wird großartig, nein: göttlich!“
„Andi, bitte nicht!“
„Oh doch. Du wirst dann zwar längst dahingeschieden sein, aber das ist gut, das erspart uns lästige Emotionen. Ich kann alles dem Anlass angemessen arrangieren. Nicht mehr Reiseszenerie mit Zelt, wie geplant, sondern Heimkehr und Übergabe des Tagebuchs.“
Andi wischte ihr mit dem Daumen eine Träne ab und
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