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In eisigen Kerkern (German Edition)

In eisigen Kerkern (German Edition)

Titel: In eisigen Kerkern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Köhler
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gedrungen. Das Stollensystem unter den Gletschern des Adamello hatte insgesamt eine Länge von 24 Kilometern.“
    Die Kilometerangabe las er mit staunender Betonung. Für einen Moment sah er versonnen vor sich hin, stand dann ruckartig auf, hängte den gerahmten Artikel zurück an die Wand und kniete sich wieder neben Nelli.
    „Und nun sag du mir, was ich gedacht habe, als ich diesen Absatz las.“
    Nelli hörte ihn sprechen und begriff seine indirekte Frage, aber es war ihr unmöglich zu antworten.
    „Ich geb dir noch nen Tipp: Kennst du den Film Flucht ins 23. Jahrhundert? Den Roboter Vox?“
    Nelli ließ die Frage in sich nachklingen und dachte an ein Museum, das sie in Kanada besichtigt hatte. Neben einem ausgestopften Elch war ein Schild angebracht gewesen, dessen Text sie damals sehr berührt hatte: Auch für die Stärksten und Schlauesten kommt irgendwann der letzte Morgen.
    „Bisschen schwer von Begriff“, murmelte Andi. „Na, ich geb dir noch ein paar Sekunden, du kommst schon noch drauf.“
    Nun hatte sie selbst also ihren letzten Morgen hinter sich. Der Tag hatte mit einem Sturz begonnen und sich von da an stetig verschlimmert. Den Sonnenaufgang vor dem Sturz hatte sie kaum zur Kenntnis genommen – sie meinte ja noch so viele vor sich zu haben. Doch nun stand fest: Den Sonnenaufgang in zwei, drei Stunden würde sie nicht mehr erleben.
    Der Gedanke daran ließ ihre Tränen stärker fließen. Sie hatte sie geliebt, die Sonnenaufgänge, die ersten Pedaltritte hinein in den unbekannten Tag, die frische Morgenluft. Ihre totale Freiheit. In den letzten sieben Jahren hatte sie tun und lassen können was sie wollte.
    Andi starrte auf den Schwall Tränen, in dem ihre Augen schwammen. Er machte ein lautes „Ts!“ und schüttelte den Kopf.
    „Du alte Heulsuse. Jetzt muss ich improvisieren.“
    Er stand auf, packte sie an ihrer Verschnürung und zerrte sie mit einer derart ruckartigen Leichtigkeit hoch, dass Nelli augenblicklich wieder schlecht wurde. Die Fesseln schnürten ihr die Luft ab.
    „Kannst du stehen? Na, wahrscheinlich eher nicht.“
    Er lehnte sie mit dem Hinterteil an den Schreibtisch, hielt mit einer Hand die Fesseln im Brustbereich gepackt und stabilisierte ihren Oberkörper damit, während er mit der anderen Hand in ihre Hosentasche fuhr. Er zerrte seinen Schlüsselbund heraus und klimperte damit grinsend vor ihrem Gesicht herum.
    „Jetzt unternehmen wir eine kleine Spritztour.“
    Er machte eine Art Verbeugung vor ihr, drückte ihr die linke Schulter in den Bauch, packte sie um die Kniegelenke, hob sie an und warf sie sich über die linke Schulter. Im Vornüberkippen schrammte Nellis Stirn nur Millimeter an der rissigen Steinwand des Zimmers vorbei, und da hing sie auch schon mit dem Kopf nach unten in der Luft. Die Übelkeit verstärkte sich.
    „Dein Zeug schaff ich nicht auch noch“, murmelte er mehr zu sich selbst. „Muss ich halt noch mal gehen. Muss ich sowieso.“
    Er drehte sich um, und wieder sah Nelli etwas auf sich zurasen, den Schreibtisch diesmal, aber wieder sauste ihr Kopf um Haaresbreite an dem Hindernis vorbei. Sie hörte und spürte, wie Andi sich an der Tür zum „Privat“-Raum zu schaffen machte. Als er mit ihr hineinging, wurde es kalt und dunkel.
    Nelli drehte den Blick von seinen Beinen weg und versuchte, sich umzuschauen. Er hatte den Kerzenleuchter auf dem Schreibtisch stehen lassen. Das Licht schien herüber, und sie sah, während Andi den Schlüssel in die nächste Tür steckte, im Halbdunkel in einfachen Regalen diverse Ausrüstungsgegenstände, die nach Bergsteigen aussahen: Seile, Pickel, Steigeisen, Klettergurte, Bergschuhe.
    Der schmucklose Raum schien ein reines Materiallager zu sein. Skier standen auch da, Skischuhe und Stöcke. Ein Skioverall hing an der Wand.
    Andi machte eine Bewegung zur Seite, um die Tür aufzuziehen, und für den kurzen Moment der Drehung sah Nelli etwas, das ihr einen eiskalten Schrecken durch die Glieder jagte und aus Andis Einzelinformationen über sein Projekt schlagartig eine Ahnung vom Gesamtbild in ihr entstehen ließ.
    Es war eine Art Lageplan, was da auf dem Boden an die Wand gelehnt direkt vor ihrem Gesicht auftauchte - von Hand gezeichnet und etwa einen Quadratmeter groß. Die Skizze eines Stollensystems mit abzweigenden Kammern ließ Eingang, Hauptgang und Nebenverzweigungen erkennen. Mindestens zwei Dutzend Räume waren gekennzeichnet und mit Namen, Zahlen und kurzen Beschreibungen versehen.
    Es ging zu schnell, um

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