In eisigen Kerkern (German Edition)
Und sie hörte nichts. Aber sie spürte, dass Andi plötzlich neben ihr war. Sie ließ die Tasche los, fuhr herum, wollte ihre Arme aus dem Schub nehmen und hochreißen.
Da explodierte in ihrer rechten Hand ein unbeschreiblicher Schmerz.
Andi hatte den Schreibtisch umrundet , hatte, statt Nelli anzugreifen, gegen den Rollschub getreten und Nellis Hand eingeklemmt. Ihre Mittelhandknochen wurden brutal gequetscht, aber das Schlimmste war, dass die Kante des Schubs in ihre Schnittwunde hackte, die sofort wieder zu bluten begann. Nelli spürte noch den Schmerz, dachte an das frische Blut und verlor das Bewusstsein.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf dem Boden vor dem Schreibtisch und spürte, wie Andi das Tagebuch hinten aus ihrem Hosenbund zog.
„Du bist mir vielleicht eine Heldin“, sagte er spöttisch-tadelnd. „Greifst einfach wo rein und lässt dir die Hand zerquetschen.“
Nelli dachte an das Blut, fühlte den Schmerz, und zugleich drückte vom Magen her eine Woge von Übelkeit durch die Speiseröhre zum Mund. Sie wollte sich auf die Seite wälzen, aber ein Reißen an der Kopfhaut hinderte sie daran. Andi hatte sich in ihren Haaren verkrallt und zerrte ihren Kopf in die Gegenrichtung.
Mit der unverletzten Hand wollte sie sich wehren, aber Andi packte, ohne die Haare loszulassen, ihren linken Arm, bog ihn nach hinten in den Polizeigriff und drehte sie mit einem Ruck auf den Bauch. Sie spürte seine Knie auf ihrem Rücken, hörte ihn in der Schreibtischschublade herumfuhrwerken, stemmte sich mit aller Kraft gegen seine Last, war aber chancenlos.
Der Fußboden war verdreckt. Nelli schluckte Staubfusseln und Steinchen, was die Übelkeit noch verstärkte. Sie spürte, wie sich etwas um ihr linkes Handgelenk schlang.
Der Druck auf ihr ließ nach. Andi warf sie herum, zerrte ihren Oberkörper hoch und begann damit, ein grobes Bergsteigerseil um ihre Oberarme zu legen und zu verknoten.
Der Schmerz in ihrer gequetschten Hand lähmte Nelli. Sie ließ geschehen, dass Andi mit einem anderen Seil nun auch ihre Füße zusammenband. Von dem Schlag mit der Eisenkugel schien er sich erholt zu haben. Mühelos hob er Nelli auf die Seite und ging neben ihr in die Hocke.
„Deine Hand macht mir ein bisschen Sorgen“, sagte er im Plauderton. „Hab dich da jetzt extra nicht so fest gefesselt. Hoffentlich kannst du damit nachher in dein Tagebuch schreiben. Oder geht es zur Not auch links?“
Nelli war außerstande, irgend etwas zu antworten. Die Schmerzen beherrschten alles. Sie wollte um Gnade zu flehen. Es ging nicht.
„Na, wir werden sehen.“
Kameradschaftlich patschte er ihr auf die Schulter und stand auf.
„Ach ja, dir fehlt ja noch die Info aus dem Artikel. Wie machen wir das?“
Sie hörte seine Knie knacken, als er wieder neben ihr in die Hocke ging, und plötzlich hatte sie den gerahmten Artikel vorm Gesicht.
„Willst du selbst lesen, oder soll ich...?“
Verschwommen sah Nelli das Foto aus der Nähe. Es handelte sich tatsächlich um eine Kanone auf großen Holzwagenrädern. Zwei Männer in Uniform standen daneben. Schauplatz war eine Art Eishöhle.
Die Buchstaben des Artikels tanzten vor ihren Augen. Sie begriff, dass sie weinte, und als sie es begriff, brach die Tränenflut so richtig los.
Es war vorbei. Was immer dieser Wahnsinnige mit ihr vorhatte, sie würde nie dazu kommen, ihrer Tochter das Tagebuch zu geben und sie um Verzeihung zu bitten. Nelli hörte, wie Tränen neben ihrem Ohr auf den Holzboden tropften.
„Na gut“, sagte Andi munter. „Ich les dir die entscheidende Passage vor. Wie gesagt, es geht um den Ersten Weltkrieg. Also: Weil es draußen an ausreichender Deckung fehlte, gruben sich die österreichischen Soldaten ins Eis hinein, bis schließlich mehr als acht Kilometer lange Stollengänge...“
Nellis leises Weinen lenkte ihn ab. Ohne die Miene zu verziehen, versetzte er ihr eine kurze, knallende Ohrfeige.
„Hör mir gefälligst zu, dies ist ein Schlüsselmoment, kapiert!“
Sie spürte die Backe heiß werden. Ihre Hand fühlte sich an wie mit glühender Glaswolle ausgestopft. Sie begriff Andis Befehl, aber nichts drang wirklich zu ihr durch in ihre tiefe Verzweiflung über ihre Hilflosigkeit.
Er schüttelte pikiert den Kopf und konzentrierte sich wieder auf den Artikel.
„Na gut, wo waren wir: ...bis schließlich mehr als acht Kilometer lange Stollengänge den Gletscher durchzogen – selbst Glaziologen waren bis dahin nicht so tief ins Innere eines Eiskolosses
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