In eisigen Kerkern (German Edition)
ins Feuer flogen, verpufften platzend und zischend.
Andi landete nach einem Salto vorwärts auf dem Rücken, der halbleere Schubkarren fiel über ihn, und plötzlich war Nellis Fluchtweg frei.
Das Tagebuch aber war unter einem Berg von Eissplittern begraben. Und daneben kämpfte sich Andi unter dem Schubkarren hervor.
Nichts wie weg, dachte Nelli – blieb aber halb aufgerichtet kauern und starrte auf den Eishaufen.
Andi stieß den Schubkarren von sich. Er wandte sich von ihr ab, dem Eishaufen zu und begann damit, Eisbrocken auf das Feuer zu werfen.
„Hier stürzt gleich alles über uns zusammen, wenn du mir nicht hilfst!“, schrie er, ohne sich zu Nelli umzudrehen.
Sie glaubte nicht, dass der gigantische Gletscher wegen eines vergleichsweise kleinen Feuers tief in seinem Bauch zusammenbrechen konnte, zumal das herabregnende Schmelzwasser dem Feuer bereits die auflodernde Kraft genommen hatte, aber sie glaubte, dass Andi es annahm und davon abgelenkt war.
Zögernd rückte sie an seine Seite und tat es ihm nach, Eisbrocken des Haufens mit den Händen abzutragen und sie in Richtung Feuer zu werfen.
Schon nach fünf, sechs Händen voll war sie am Ziel, erkannte eine Ecke ihres Tagebuches, zerrte es unter dem Eis hervor, wollte zu einer Fluchtbewegung nach hinten ansetzen, aber sah zu spät den Hieb auf sich zukommen.
Sie duckte sich instinktiv, wurde aber an der Schläfe getroffen. Der Eisbrocken in Andis Faust bohrte sich in die empfindliche Mulde über den Wangenknochen, und der Schmerz raste an der Stirn entlang und tief in den Schädel hinein.
Sie kippte zur Seite, spürte, wie Andi sich auf sie warf und ihr seine vom Eis kalten und nassen Hände an die Kehle legte.
Ihre Hände waren frei, aber viel zu langsam gelang es ihr, seine Handgelenke zu packen und dagegen zu drücken. Er hatte sich mit seinem vollen Gewicht auf sie gestemmt. Unmöglich, ihn von sich zu wälzen.
„Du glaubst doch nicht, dass ich dich laufen lasse“, keuchte er, und sie sah, während schon die Schwärze beginnender Ohnmacht den Rand ihres Blickfeldes trübte, den blanken Knochen seines zertrümmerten Nasenbeines.
Nelli gab es auf, sich gegen den Druck an ihrem Hals zu wehren. Ihre rechte Hand wanderte an Andis Körper entlang nach unten zu ihrer Hosentasche. Sie ertastete das Sprühfläschchen, zog es hervor, hob es in Kopfhöhe und drückte den Knopf.
Andi bekam den Reizgassprühnebel aus nächster Nähe in die Augen und die offene Wunde seines Nasenbeinbruches.
Nelli hörte ein grelles „Yiiieeehhhaaa!“
Der Druck an ihrer Kehle ließ nach. Der schwarze Schatten, der ihr Sichtfeld einschnürte, wanderte zurück zum Rand und öffnete ihren Blickwinkel.
Sie würgte und hustete, spürte jetzt erst die Kälte an ihrem Rücken, und sie sah den Scheiterhaufen schwarz und erloschen vor sich.
Noch im Aufstehen griff sie nach ihrem Tagebuch und verankerte es fest in der linken Hand. Sie stieg über Andi hinweg und sprühte ihm, für alle Fälle, den Rest des Reizgases ins Ohr und, als er reflexartig abwehrte, noch eine letzte Dosis auf die geschlossenen Augen. Aus dem Zischen wurde ein leeres Pft.
Sie ließ das Fläschchen fallen und tastete sich an der Stollenwand entlang in Richtung Freiheit.
Vielleicht würde sie es bald bereuen, ihn einfach liegengelassen zu haben. Denn was sollte sie denn anfangen mit ihrem Vorsprung, wenn sie nicht wusste, was dann? Raus aus dem Gletscher, klar, aber wohin? Zum Lastwagen? Den musste sie erst mal finden! Und selbst wenn, den Zündschlüssel hatte Andi.
Also zu Fuß flüchten? Durch unbekanntes Gebirgsgelände, bei der Kälte, in ihrer Verfassung?
Sie blieb stehen und sah sich um. Lauschte.
War da nicht ein Schlurfen unmittelbar hinter ihr?
Die natürliche Spalte, durch die sie sich bewegte und an deren Ende Andi sein Projekt gesetzt hatte, weitete sich. Eine Ahnung vermischt mit Erinnerungen des Hereingeschleiftwerdens und näher kommende Morgenhelligkeit verrieten ihr, dass der Ausgang nahe war.
Sie machte einen Schritt nach vorn und einen weiteren. Rechts, wo die Schubkarre sie an der Hüfte gerammt hatte, konnte sie kaum auftreten.
Am Ende der Gletscherspalte, wo der mächtige Riss im Eis sich weitete und wie ein Vorhang auseinanderging, lag grauer Fels.
Der Anblick gab Nelli einen Schub neue Energie. Sie versuchte, schneller zu gehen, denn das Kratzen hinter ihr kam näher und wurde lauter.
Der Ausgang lief in einem mächtigen Überhang aus, einem weit geschwungenen
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