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In eisigen Kerkern (German Edition)

In eisigen Kerkern (German Edition)

Titel: In eisigen Kerkern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Köhler
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oben ausgestreckt. Sein Unterkörper baumelte ins Leere.
    Auch Nelli zog es von den Füßen. Sie kniete jetzt einen Meter vor der Kante, hielt ihr Buch mit beiden Händen gepackt und wurde von Andis Gewicht weiter auf die Eisspalte zugezogen.
    „Ich lass nicht los“, keuchte Andi und starrte sie aus seinen Sehschlitzen an, während erst der Bauch über die Kante rutschte, dann die Brust bis zum Hals. In einer Art Winkelstellung fanden die beiden Körper eine vorerst stabile Position: Andi hing senkrecht in die Spalte, die Füße baumelten in unbekannte Tiefen, der Kopf schaute gerade so über die Kante, und seine ausgestreckten Arme fanden über die Hände Halt am Buch und damit an Nelli, die inzwischen bäuchlings auf dem Eis lag und mit den Füßen hinter sich nach Halt suchte.
    Während Andi sich seitlich am Buch verkrallt hatte, verhakten sich Nellis Hände am Buchrücken. Andis Hände rutschten schon.
    Doch statt abzugleiten und in der Tiefe zu verschwinden, griffen die kalten, feuchten Finger seiner linken Hand vom Buch auf Nellis rechtes Handgelenk um. Sie erschrak so sehr und war so angewidert, dass sie instinktiv mit der anderen Hand versuchte, sich zu befreien. Damit hatte sie das Buch schon losgelassen, und ehe sie das begriff, verschwand Andis kalter Griff von ihrem Handgelenk, und damit verschwanden er selbst und ihr Tagebuch aus ihrem Blickfeld.
    In ihrer Todesangst, Anspannung und Erschöpfung begriff Nelli erst mal gar nichts. Sie hatte gesiegt. Und verloren zugleich.
    Sie stand auf. Ganz langsam drückte sie den Oberkörper vom Eis hoch, spürte die Kälte an den verkrampften Fingern, kam von den Knien auf die Füße, stand auf Socken da, schaute sich nach ihren geborgten Schlappen um, zog sie an, trat an die Kante, Zentimeter für Zentimeter, um bloß nicht jetzt noch hinterher zu stürzen, und erwartete in ein unendlich tiefes Nichts zu blicken.
    Wenige Meter tiefer aber lief die gar nicht so ferne gegenüberliegende Wand auf die Seite ihrer Spaltenhälfte zu, traf mit ihr fast zusammen, um sich darunter wieder zu entfernen. In der Engstelle steckte Andi wie ein Korken im Flaschenhals, hielt das Tagebuch fest umklammert über den Kopf gestreckt und sah sich irritiert mit seinen Sehschlitzaugen um.
    Sein Kopf zuckte nach oben, in Nellis Richtung. Er hatte ihren Umriss erkannt.
    „Hol mich hier raus!“, presste er hervor. „Sonst ist auch dein verdammtes Geschreibsel weg!“
     
    Schwer schnaufend unter der Last ihrer Ausrüstung kam Nelli eine halbe Stunde später wieder zurück an die Stelle, wo der Eispickel den Schauplatz des Showdowns markierte. Sie spähte über den Rand der Spalte und fand Andi, mit Beinen und Bauch noch immer fest eingepfropft, mit eingesunkenem Kopf und Oberkörper. Das Tagebuch hielt er aufgeschlagen vor sich. Es war ihm ans Gesicht gesunken, als ihn die Kälte gelähmt hatte.
    Eine Minute, zwei Minuten ließ sie verstreichen und beobachtete den reglosen Körper sorgfältig darauf, ob nicht doch noch irgendein Muskel zuckte.
    Nichts zuckte. Sie konnte es angehen.
    Das Risiko war auch mit einem hoffentlich inzwischen erfrorenen Gegner noch groß genug. Sie hatte es abgeschätzt auf dem Weg zurück ins Schreckenskabinett: keine Erfahrung mit Eisklettern, keine Erfahrung mit Abseilen, nicht mal eine Ahnung von Knoten, und niemand, der sie sicherte. Sollte sie wirklich ein solches Wagnis eingehen in einer Verfassung, in der die letzten Reserven ihres Körpers dahinschwanden?
    Andererseits: Gletscher bewegten sich. Gletscherspalten öffneten und schlossen sich, und zwar oft von einer Minute zur anderen. Selbst wenn alles blieb, wie es war, ihr Gewissen hätte es nicht zugelassen, nicht die Polizei zu holen. Dann aber kamen fremde Menschen hierher, bargen fremde Menschen ihr Tagebuch. Sie würden drin blättern und lesen, bevor sie es ihr zurückgaben, und so ihr Geheimnis erfahren.
    Also hatte sie sich das Bergsteigerseil des toten Kletterers geholt und seine Steigeisen, dazu Schaufeln, Spaten und sonstige Gerätschaften, die sich über der schmalen oberen Öffnung der Gletscherspalte würden verkanten lassen.
    Sie ließ ein Seilende hinunter zu ihrem Tagebuch und maß damit die maximal zulässige Falltiefe minus einem halben Meter, um nicht selbst in der Engstelle steckenzubleiben. Das Seil war knapp fünf mal länger, also zerschnitt sie es mit einem Messer aus ihrem eigenen Gepäck in fünf gleich lange Stücke.
    Sie hatte neben einem weiteren Eispickel vier Querleger

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