In eisigen Kerkern (German Edition)
Vordach aus Eis. Als Nelli darunter hervor stieg und einer Art Pfad folgend nach oben kletterte, sah sie über sich den blassblauen Himmel eines Morgens, den sie nicht mehr zu erleben erwartete hatte. Einen weiteren Meter höher blendete sie strahlende Morgensonne.
Unwillkürlich blieb sie stehen. Die Sonne wärmte nicht in dieser Höhe, aber ihre Strahlen im Gesicht taten gut.
„Nelli!“
Zehn Meter hinter und vielleicht fünf Meter unter ihr war Andi aus der Gletscherspalte hervorgetreten. Sein Gesicht war verschwollen und verquollen. Seine Augenlider waren zu Schlitzen verengt. Mit der linken Hand schirmte er seinen Sichtbereich ab. In der rechten Hand hielt er den Eispickel und schleifte ihn hinter sich her.
„Ich sehe dich, und das heißt, ich krieg dich auch.“
Sie drehte sich von ihm weg und schleppte sich weiter.
„Weißt du eigentlich, wo du da hin marschierst? Wir sind gleich auf dem Gletscher. Und hier an dieser Stelle gibt es viele Spalten und Risse, die reinsten Abstürze. Weißt du, was dir blüht, wenn du da rein fällst?“
Nelli wusste es und zwang sich voran, immer einen Schritt vor den nächsten.
„Du begibst dich dort oben quasi in ein Minenfeld.“
Sie ging weiter, auf das Ende der Steigung zu.
„Ich hab auch nichts davon, wenn du in einer Gletscherspalte verschwindest, hörst du?“
Nelli erreichte die Kante des Anstieges. Die Sonne lag nun wie ein Ball genau auf dem Horizont und beleuchtete eine Szenerie, wie sie Nelli in dieser Größe und Schönheit noch nie gesehen hatte. Am liebsten wäre sie stehengeblieben und hätte einfach nur geschaut und gestaunt über dieses uferlose Meer aus Eis.
„Ich will nur das Tagebuch. Dich lass ich laufen. Wenn du hier wieder runter kommst, bist du frei, okay?“
„Okay!“, rief Nelli zurück und drehte sich um. Andi war auf fünf Meter herangekommen, zerrte seinen Eispickel hinter sich her und starrte sie durch seine verquollenen Sehschlitze an.
Der sah sie doch nur, weil sie im Gegenlicht lief!
Aber um in die andere Richtung zu wechseln, war es zu spät – Andi versperrte ihr den Weg. Und schräg hinter ihr verlief eine Gletscherspalte.
Sie ging daran entlang im Bogen um ihn herum. Er blieb irritiert stehen und starrte in ihre Richtung. Sein Blick zuckte hin und her. Licht und Schatten kann er sehen, dachte Nelli, mehr offenbar nicht.
Als er sich der Richtung sicher war, in die sie ging, schnitt er ihr schlurfend den Weg ab.
„Bist du endlich am Ende“, keuchte er und klang selbst, als könne er keinen Meter mehr gehen.
Mit einem Ruck zog Andi den Eispickel zu sich heran, hob ihn hoch und wollte nach ihr schlagen. Nelli machte einen trägen Schritt nach vorn, packte den Pickel mit der linken Hand am Stiel und drückte dagegen.
Mit der rechten Hand riss sie das Tagebuch hoch, um es ihm gegen das zertrümmerte Nasenbein zu rammen. Andi sah den Angriff kommen, stieß seine linke Hand hoch und fing das Buch ab.
Nelli wollte es ihm wieder entreißen, aber seine Hand schien daran zu kleben. Sie sah seine Knöchel hervortreten, so sehr krallte er sich fest. Mit der anderen Hand versuchte er, gegen ihren Widerstand mit dem Eispickel zu zu schlagen.
Aus den Augenwinkeln sah Nelli die Abbruchkante. Sie waren der Spalte gefährlich nahe. Sie drückte gegen den Eispickel, zog zugleich am Buch und machte mit den Beinen eine Ausfallbewegung dazu, die sie weg aus dem Gefahrenbereich führte und Andi darauf zu. Er drehte sich mit dem Rücken zur Gletscherspalte und machte einen kleinen Schritt nach hinten.
Seine Fersen waren nur Zentimeter von der Abbruchkante entfernt. Nelli zog am Eispickel und am Buch gleichzeitig, und als er sich dagegen stemmte, stieß sie ihn mit aller Kraft in Richtung Gletscherspalte. Den Eispickel ließ sie los, griff mit der freien Hand zum Buch und wollte es ihm mit einem Ruck entreißen.
Andi geriet mit beiden Fersen über die Kante, kippte nach hinten, aber seine Reflexe funktionierten noch. In dem Moment, in dem er das Gleichgewicht verlor, ließ er den Eispickel los und griff mit der zweiten Hand zum Buch.
Der Pickel landete zu Nellis Füßen direkt an der Kante, hing mit dem Stiel in den Abgrund, aber blieb oben liegen.
Andis linker Fuß verlor den Halt. Er stürzte mit dem rechten Knie auf die Kante und riss Nelli mit hinunter. Für einen Moment schien es, als könne er das Gleichgewicht wieder finden und sich hoch ziehen. Aber auch das Knie rutschte weg, und er fiel auf den Bauch, die Arme nach
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