In eisigen Kerkern (German Edition)
Andis Gewalt, als sie damit gerechnet hatte, den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr zu erleben. Ihr karges und armes, einsames aber freies Leben hatte ihr so viel bedeutet, eine solche Sehnsucht nach dem nächsten Sonnenaufgang hatte sie gehabt in ihrer Todesangst, eine Gier nach Leben.
Aber jetzt, da sie das Heißersehnte zurückbekommen hatte, konnte sie nichts mehr damit anfangen. Da lag sie, mit offenen Augen ins Leere starrend im Bewusstseinszustand einer Nacktschnecke und verfolgend, wie aus Dunkelheit erste Dämmerung wurde, ein Anflug von Helligkeit, ein Schimmer des ersten Sonnenrandes am Horizont, da lag sie und konnte dem Tag, der da anbrach, keinen Sinn mehr abgewinnen. So viel Zeit, so viele Möglichkeiten und zugleich Einschränkungen, so viel Leben – was nur anstellen damit?
Na, was wohl? Als ob das überhaupt eine Frage wäre! Wie zur Bestätigung begann draußen um das Zelt herum das Geraschel der Frühaufsteher unter den Waldtieren. Die taten zielgerichtet das, was notwendig war. Sie warteten nicht auf Fütterung, sondern suchten nach Nahrung, und zwar dort, wo sie waren, und sie nahmen das, was sie kriegen konnten. Wasser fließt nach unten ab. Schwimmen gegen den Strom, die eigenen Ideale hochhalten – das konnte man sich leisten, wenn der Magen nicht knurrte. Nelli wusste, was sie zu tun hatte. Sie kroch aus dem Schlafsack, zog den Reißverschluss des Zeltausgangs auf und schaute zwinkernd hinaus in den Sonnenaufgang.
Kurz nach halb acht war sie zurück an den beiden Telefonstelen vor der Hofer Stadtpost. Den Berg herauf war sie trotz der morgendlichen Kälte ins Schwitzen gekommen. Neuer Schweiß klebte auf altem Schweiß, sie hatte seit ihrem Krankenhausaufenthalt nicht mehr geduscht. Wenn das hier erledigt war, würde sie sich erst einmal einen Badesee suchen.
Sie stellte ihr Fahrrad auf den Ständer und lüftete wedelnd ihr T-Shirt.
Na denn, bringen wir es hinter uns!
Der silbergraue Abfallbehälter hatte einen orangefarbenen, verschrammten Deckel. Der Spalt zwischen Behälterrand und Deckel war so schmal, dass ihr Arm gerade hinein passte. Sie hoffte, dass der zerknüllte Zettel mit den Telefonnummern obenauf lag. Aber das Erste, was sie mit den Fingerspitzen ertastete, war etwas Glitschiges, Kaltes – eine Bananenschale.
Igitt! Also tiefer. Eine zusammengefaltete Zeitung. Verschrumpelte Papiertaschentücher. Feste runde Kaugummiklumpen. Zigarettenkippen.
Inzwischen steckte Nelli bis zum Schultergelenk in dem Abfallbehälter. Sie wühlte tiefer, fuhrwerkte mit der Hand über den krümeligen Boden des Behälters, suchte alle vier Innenkanten und Ecken ab, durchmischte den Inhalt und ließ die absonderlichsten Wohlstandsreste tastend durch die Finger gleiten.
Da war was, fühlte sich an wie eine Papierkugel.
Nelli zog den Arm aus dem Müll und betrachtete ihre Beute. Es war ihr Zettel. Erleichtert stellte sie fest, dass die Zahlen und der Name trotz ihres wilden Durchstreichens noch zu lesen waren.
Herolder. Eine Klatschreporterin.
Nelli stellte sich vor, wie es wohl sein würde, von einer solchen Frau bis ins intimste Detail ausgefragt zu werden und dann das eigene Leben in einem Sensationsartikel verdreht und verkitscht neu zusammengesetzt zu bekommen – aber wusste zugleich, dass es ganz anders sein würde. Es war immer anders, als man es sich vorstellte. Und deshalb war auch Andi ganz sicher nicht mehr am Leben, und ganz sicher ging vom Verschwinden seiner Leiche keine Gefahr aus. Alles war ganz anders.
Hoffentlich...
Nelli fischte ein Papiertaschentuch aus einer Seitentasche, reinigte so gut es ging ihre Abfallhand, warf das Taschentuch in den Müll, schob ihr Fahrrad zu einer Bank unweit der Telefonstelen, stellte es ab, setzte sich hin und sah dem morgendlichen Treiben an dieser zentralen Kreuzung ihrer Heimatstadt zu.
Jetzt wäre ein Kaffee recht gewesen. Ein Marmeladenbrötchen. Die Morgenzeitung. Die vielen Leute, die an ihr vorbeikamen, hatten wohl mehr oder weniger alle die Zeit nach dem Aufstehen mit den üblichen Frühstücksritualen verbracht. Sie waren gelangweilt, vielleicht gestresst und genervt, problembeladen, aber lebten im Warmen und Trockenen, in Sicherheit, waren frisch geduscht und sauber gekleidet.
Nelli sehnte sich ihre einstige Geborgenheit so derart zurück, dass es weh tat. Und sei es nur für die kleinen Freuden eines gemütlichen Fernsehabends und den bescheidenen Luxus einer Kaffeemaschine – sie würde dieser Klatschreporterin alles
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