In eisigen Kerkern (German Edition)
alt bist du eigentlich?“, fragte Nelli.
„22. In zwei Wochen.“
Sie nickte und fühlte so etwas wie Beschützerinstinkte erwachen. Der junge Kerl wirkte so hilflos – eher wie ein kleiner Bub als der erwachsene Mann, der er ja eigentlich schon war.
„Ja, mir ist viel Schlimmes passiert, Rolf. Aber auch, wenn ich so aussehe, ich bin eigentlich keine Landstreicherin. So zu leben, das war eine bewusste Entscheidung, weißt du, zumindest war ich nicht gezwungen...“
Was sollte das denn? War es jetzt schon so weit, dass sie sich vor fremden Leuten ungefragt rechtfertigte?
„Möchten Sie darüber reden? Ich lade Sie zu einem Kaffee ein.“
Nelli schaute ihn an und lachte.
„Was?“
Er lachte zurück.
„Warum nicht?“
Nelli stutzte. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass da etwas nicht stimmte. Sein Lachen wirkte nicht echt. Das freundliche Angebot war unangemessen und passte nicht zur Situation.
„Haben Sie Angst, ich will was von Ihnen?“
„Nein, aber... das lassen wir lieber.“
„Sicher?“
Nelli nickte entschieden.
„Wie Sie möchten.“
„Aber danke. Für alles.“
„Machen Sie’s gut.“
Er hob den Arm, als wolle er sich mit Handschlag verabschieden, machte dann aber ein angedeutetes Winken aus der Geste und ging federnd in Richtung Imbissbude davon. Nelli sah ihm nach, bis er rechts um die Ecke verschwunden war.
Reden. Bei einem Kaffee. Über alles, was ihr passiert war. Nein, das mochte sie wirklich nicht.
Aber mit der Klatschzeitungsfrau würde sie es müssen. Vielleicht gab es doch noch eine andere Lösung, zu Geld zu kommen.
Als Nelli am nächsten Morgen ihr Fahrrad neben der Imbissbude abstellte, um die Notiz mit der Telefonnummer der Reporterin Herolder abzuholen, erlebte sie eine Überraschung, die ihr gar nicht gefiel. Rolf stand da selbst mit einem zusammengefalteten Zettel in der Hand und grinste sie an.
„Stehst du da schon lange? Wir hatten doch gar nichts ausgemacht, schon gar keine Zeit“, begrüßte sie ihn nicht gerade freundlichen Tons.
„Hier, Ihr Geld“, sagte er fröhlich und streckte ihr seine Hand mit ein paar Münzen entgegen. „Die Frau hatte es zur Seite gelegt. Sie haben es sich gestern offenbar doch nicht mehr geholt.“
„Nein.“
Sie hatte es schlicht vergessen und erst abends wieder daran gedacht.
Den ganzen Tag war sie kreuz und quer durch ihre Heimatstadt geradelt, war schließlich im Naherholungsgebiet Untreusee hängen geblieben, hatte sich selbst und ein paar Klamotten im See gewaschen und hatte nachgedacht über ihre Möglichkeiten.
Man spazierte nicht einfach in irgendwelche Firmen und fragte nach Jobs. Schon gar nicht, wenn man so aussah wie sie. Man studierte Stellenangebote, schickte Bewerbungen, wurde eingeladen, machte sich schick dafür, zeigte sich von seiner besten Seite... – ein wochen- und monatelanger Prozess, für den sie keine Zeit und kein Geld hatte.
Alle Grübelei hatte sie schließlich zu einer einzigen letzten Möglichkeit geführt, die ihr blieb, wenn sie ihre Geschichte nicht verkaufen oder betteln gehen wollte: Sie musste zum Sozialamt, musste sich registrieren, einen Wohnsitz zuweisen lassen und dann auf Vermittlung hoffen in irgendeinen Superbilligjob. Mittelmäßig-mieses Abitur, Soziologiestudium abgebrochen, reich geheiratet, Luxusleben geführt, danach ausgeflippt, jahrelang ziellos um die Welt geradelt und mit knapp 40 am Ende der Fahnenstange angelangt – das war ihr Lebenslauf. Tauglich für eine Karriere als Aushilfskraft. Oder sie konnte sich überwinden und ihre Geschichte erzählen.
„Nelli? Hier, Ihr Geld.“
Rolf streckte ihr noch immer die offene Hand mit Euro- und Cent-Münzen entgegen. Gedankenverloren pickte Nelli sie heraus und steckte sie ein.
„Du wolltest doch einen Zettel für mich hinterlegen“, sagte Nelli bemüht freundlich, aber dennoch deutlich vorwurfsvoll.
„Ich wollte aber mit Ihnen reden.“
„Worüber denn?“
„Über das, was Sie erlebt haben.“
Nelli schüttelte entschieden den Kopf.
„Ich bin dir sehr dankbar für alles, aber ich hätte jetzt gern den Zettel mit der Nummer. Diese Frau Herolder hat doch angerufen, oder?“
„Ja, hat sie.“
„Und?“
„Haben Sie schon gefrühstückt? Keine Sorge wegen Geld, ich lade Sie ein.“
„Nein.“
Er schnaufte tief ein und aus, legte sein Lächeln ebenso übergangslos ab wie sein treudoof-naiv-freundliches Wesen und klang auf einmal wie jemand, der genau wusste, was er wollte, und bereit war, es
Weitere Kostenlose Bücher